Der Fall Flükiger Bis heute ist der Tod des Offiziersaspiranten Rudolf Flükiger nicht geklärt. Kreuzte der Berner ungewollt die Wege jurassischer Separatisten? Wurde er von Schmugglern ermordet? Oder kam er der RAF in die Quere? Drei mögliche Hypothesen.
Bis heute wird im Jura über das Schicksal von Rudolf Flükiger spekuliert. In der Nacht vom 16. auf den 17. September 1977 verschwindet der 21-jährige Berner Offiziersaspirant und Radfahrer während eines nächtlichen Postenlaufs auf dem Waffenplatz von Bure. Erst einen Monat später findet man seine sterblichen Überreste in der Gegend von Grandvillars in Frankreich.
Bis heute gilt Suizid als offizielle Todesursache. Doch ein Suizid mittels Handgranate, wie ihn der Abschlussbericht der Schweizer Justiz als Todesursache festhält, kann ausgeschlossen werden. Dies zeigt auch die 2024 erschienene Dokumentation «Operation Silence – Die Affäre Flükiger» von Werner Schweizer.
Erstens war Rudolf Flükiger ein kräftiger und unbeschwerter junger Mann, der sich wohl in seiner Haut fühlte. Zweitens ereigneten sich beim Militär seit 1943 nur drei oder vier Selbsttötungen mittels Handgranate – die meisten Suizide werden mit der Ordonnanzpistole verübt.
Drittens, trägt jede Handgranate des Modells 43 eine Nummer, über die sich zurückverfolgen lässt, welche Truppe die entsprechende Serie erhalten hat. Am Tatort wurde offenbar keine Spur einer solchen Nummer gefunden. Viertens hält der frühere Truppenarzt Jean-Luc Eberlin, der die Aufzeichnungen der Unterlagen zum Fall genau studiert hat, aufgrund der Verletzungen und der Lage des Leichnams einen Selbstmord für unmöglich.
Drei Hypothesen zum Tod von Rudolf Flükiger Nur der untere Teil der Leiche lag etwa zehn Meter vom Krater der Granate entfernt, während von der Pistole und dem Halfters jedoch jede Spur fehlte. Die Hälfte der militärischen Erkennungsmarke lag am Tatort. Ist es möglich, dass die Marke durch die Explosion zerrissen wurde? Weder Pistole, Kompass und Taschenlampe wurden gefunden.
Die Waffe hat sich durch die Explosion nicht etwa verflüchtigt, sondern ist verschwunden. Wurde sie gestohlen? Hatte Rudolf Fükiger sie verloren? Ihre Nummer war im Dienstbüchlein des Aspiranten vermerkt. Wurde diese Nummer nie veröffentlicht, obwohl sich dadurch eine neue Fährte – in diesem Fall zur Klärung eines Verbrechen – hätte ergeben können?
Als Erklärung für den noch immer ungeklärten Todesfall kommen drei Hypothesen in Frage: Hypothese 1 Drogen- oder Waffenschmuggler werden von einem rennenden Mann in blauem Overall überrascht, der eine Taschenlampe hält und an der Seite eine Pistole trägt. Sie halten ihn für einen Grenzwächter oder Polizisten und erschiessen oder erschlagen ihn. Um eine falsche Fährte zu legen, bringen sie die Leiche nach Frankreich. Mit einer gestohlenen Handgranate mit Zusatzladung werden allfällige Spuren beseitigt.
Hypothese 2 Aspirant Flükiger wird im Umkreis des Waffenplatzes von Bure unfreiwillig Zeuge davon, wie Mitglieder der Roten Armee Fraktion den lebenden oder toten Hanns Martin Schleyer an einen neuen Ort bringen. Der Zeuge muss beseitigt werden. Eine unwahrscheinliche Hypothese, wenn man den Grad der Professionalität der westdeutschen Terroristen kennt.
Hypothese 3 Haben sich einige Béliers oder Autonomisten, nicht unter der Kontrolle ihrer «Glaubensbrüder», auf einen «Scherz» eingelassen, eine Operation, die schiefgelaufen ist? Am 15. Oktober 1977 erhält die Redaktion der Zeitung «L’Impartial» in La Chaux-de-Fonds ein anonymes Schreiben, das die Untersuchungsverantwortlichen von Beginn weg als Instrument eines pro-bernischen Ränkespiels einordnen (der Fall wurde denn auch tatsächlich instrumentalisiert).
In diesem Schreiben «gesteht» ein angeblicher Bélier-Anhänger, der mit dem Brief sein Gewissen erleichtern möchte, Rudolf Flükiger sei in der Absicht entführt worden, den Fernsehkameras vor dem Bundeshaus einen nackten «Fritz» (Deutschschweizer) vorzuführen.
Beim Transport im Kofferraum eines Autos sei der gefesselte und geknebelte Aspirant an seinem Erbrochenen erstickt. Der Suizid mittels Handgranate wird inszeniert. Im Unterschied zu den damaligen Zeitungsartikeln wird der Name Flükiger im Brief korrekt geschrieben.
Die Ereignisse um dem Fall und der Brief werfen Fragen auf: Haben Suchhunde eine Spur bis zu einem Hof am Rande des Waffenplatzes von Bure verfolgt? Haben sie sie daraufhin verloren?
Gibt es Zeugen, die im entsprechenden Rayon verdächtige Bewegungen beobachtet haben?
Wurde das Modell der Schreibmaschine identifiziert, auf der der anonyme Brief getippt wurde? Wer ist ihr Eigentümer?
Wurden die Autoren des Briefs an Bundesrat Gnägi und der Berichte unter dem Namen «Groupe action vérité affaire Flükiger» (Aktionsgruppe Wahrheit im Fall Flükiger) identifiziert?
Was ist über das Treffen s im Restaurant Grandfontaine vom 16. auf den 17. September 1977 bekannt?
Dessen Wirt, Alfred Amez, der damit geprahlt haben soll, so einiges über den Fall Flükiger zu wissen, beging 187 Tage später unter ungeklärten Umständen «Selbstmord» in der Nähe von Lyon.
Was hat die Militärjustiz unternommen? Es geht schliesslich um die Ermordung eines sich im Dienst befindenden Militärangehörigen. Und was hat die Bundespolizei unternommen, in deren Zuständigkeit ein Sprengstoffdelikt fällt?
Hatten die Ermittler der Ajoie die Mittel und Möglichkeiten, die Untersuchung in aller Gründlichkeit durchzuführen und alle daraus resultierenden Schlüsse zu ziehen? Bis heute sind die Archive des Rassemblement jurassien und der Bélier unter Verschluss – sie werden es bis 2088 bleiben.
1977 stand man kurz vor der Abstimmung der Kantone und des Schweizer Stimmvolks über die Gründung der Republik und des Kantons Jura. Die Berner Kantonsregierung hatte sich da bereits mit dem Verlust eines Teils ihres Kantonsgebiets abgefunden. Im Norden des Berner Juras zeigen Polizei und Justiz (noch immer Berner) keine sonderliche Dynamik mehr, besonders, wenn ein Fall in Zusammenhang mit der Jurafrage steht.
Befürchten die Exponaten des jurassischen Verfassungsrats, dass die Wahrheit die für 1978 geplante eidgenössische Abstimmung über die Gründung des neuen Kantons ungünstig beeinflussen würde? Möchte Bundesrat Kurt Furgler, der in der Jurafrage grosses Engagement gezeigt hat, sein Wirken nicht gefährden? Jedenfalls lädt den Chefredakteur des «Bundes» vor und bittet ihn, vom Fall Flükiger nicht allzu viel Aufhebens zu machen.
Der Tod von Aspirant Flükiger ist nicht restlos geklärt. Nicht zu vergessen ist der unbeschreibliche Schmerz seiner Familie, die sich von Anfang an sicher war, dass sich der junge Mann nicht das Leben genommen hat. Der Dokumentarfilm von Werner Schweizer hat sie zufriedengestellt...
Im Zweifel Suizid Regisseur Werner Schweizer begibt sich auf die Spuren der Affäre Flükiger. Dabei spielen die RAF, jurassische Separatist:innen und eine weisse Amsel eine Rolle. Und die Schweizer Politik, die funktioniert, wie sie eben funktioniert. Von Corinne Riedener , 15.04.2024
Es ist einen kühler Septemberabend 1977 im südwestlichsten Zipfel des Jura, unweit der französischen Grenze. Nachts nähern sich die Temperaturen bereits dem Nullpunkt. Der Offiziersaspirant Rudolf Flükiger ist mit Landkarte und Taschenlampe im Wald unterwegs, Tenue Blau. Der sportliche 21-Jährige steht drei Wochen vor Ende seiner Ausbildung zum Unteroffizier. 19 Posten umfasst der Orientierungslauf, den er in dieser Nacht absolvieren soll. Er hat sich die entlegensten als erstes ausgesucht, um so viele Punkte wie möglich zu sammeln. Doch der Bauernsohn aus dem Berner Mittelland braucht ungewöhnlich lange.
Als um Mitternacht immer noch jede Spur von Aspirant Flükiger fehlt, beginnt man rund um den Waffenplatz Bure, dem 600 Hektar grossen Gebiet, wo er stationiert ist, nach ihm zu suchen. Ohne Erfolg. In den folgenden Wochen durchkämmen hunderte Soldaten, Polizeiangehörige und Freiwillige das Gebiet, sogar Pendler und Wahrsager werden hinzugezogen. Gewissheit gibt es erst einen Monat später: Ein Jäger findet Flükiger tot im Wald, zerfetzt von einer Granate.
War es die Rote Armee Fraktion RAF, die sich zu jener Zeit im französisch-schweizerischen Grenzgebiet herumtrieb? Waren es jurassische Separatist:innen, Mitglieder der Groupe Bélier, die den Soldaten entführten und aus Versehen getötet haben? War es ein Unfall oder ein Suizid? Oder steckt doch etwas ganz anderes hinter dem Tod von Ruedi Flükiger? Der Fall hat damals hohe Wellen geworfen und ist bis heute ungelöst, ein Cold Case, der von den Justizbehörden auch nicht mehr aufgerollt wird. Als offizielle Todesursache geben sie Suizid an.
Spekulationen und Eigeninteressen
Damit wollte sich Werner Schweizer nicht zufriedengeben. Der Regisseur ist ein Jahr jünger als Flükiger und im selben Dorf zur Schule gegangen. Er begibt sich in seinem neuen Dokfilm Operation Silence – die Affäre Flükiger auf Spurensuche, spricht mit Angehörigen, Sachverständigen und Zeitzeugen. Schweizer will Licht in die mysteriösen Ereignisse bringen, die in den Monaten vor der nationalen Abstimmung über die Unabhängigkeit des Kantons Jura passierten.
Operation Silence – die Affäre Flükiger: ab 17. April im Kinok St.Gallen. Premiere um 20 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs
kinok.ch
Daniel de Roulet: Staatsräson, Limmat Verlag, Zürich 2021
Rund um den Fall Flükiger ranken sich zahlreiche Gerüchte und Theorien, geschuldet auch den damals turbulenten Zeiten: Seit Jahrzehnten kämpft das breit aufgestellte Rassemblement jurassien für einen eigenständigen Kanton – und ist 1977 auf der Zielgeraden. In Deutschland macht die zweite Generation der RAF mit dem «Deutschen Herbst» Furore. Die Leiche des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten und ehemaligen SS-Offiziers Hanns Martin Schleyer findet man fast gleichzeitig mit Flükiger in Mulhouse, keine Autostunde von Bure entfernt.
Die Spekulationen waren wild – und gewisse am Fall Beteiligte wussten diese nur zu gut für ihre Eigeninteressen zu nutzen. Flükiger könnte der RAF in die Quere gekommen sein. Dem Untersuchungsrichter Arthur Hublard kam diese Theorie gelegen, er überwachte, fichierte und verhaftete vorsichtshalber gleich das versammelte linksaktivistische Milieu der Region.
Für den Bundespräsidenten Kurt Furgler hingegen stimmte die Suizid-Theorie, obwohl ein anonymer Brief die Schuld der jurassischen Groupe Bélier gab und die Familie Flükiger einen Suizid schon damals und bis heute vehement bestreitet. Doch Furgler wollte einen neuen Kanton schaffen und hatte eine Abstimmung zu gewinnen. Militante Separatist:innen hätten ihm schlecht in den Kram gepasst. Solche hätte er dann eher für sein anderes Herzensprojekt brauchen können, die nationale Polizeispezialeinheit namens BUSIPO.
Die weisse Amsel
Werner Schweizer hat den Fall Flükiger jahrelang recherchiert. Er hält alle drei Theorien für widerlegt, insbesondere den Suizid, der für die Behörden eine willkommene Todesursache war und letztlich wohl half, die Jura-Abstimmung zu gewinnen. Damit ist Schweizer nicht alleine. Und er hat eine ganz neue Spur aufgetan: Während der Schnittarbeiten am Film wurde ihm anonym bisher unveröffentlichtes Material zugespielt, was dem Fall eine neue Wendung gab. Eine weisse Amsel spielt darin eine wichtige Rolle…
Auch der Schriftsteller Daniel de Roulet hat in seinem 2021 erschienenen Roman Staatsräson den Fall Flükiger thematisiert. Lösen konnte er ihn nicht – was die Lektüre nicht weniger attraktiv macht. Regisseur Schweizer kommt der Lösung des Falls mit seinem Film immerhin ein gutes Stück näher, auch wenn es wohl nie Gewissheit geben wird. Dafür einmal mehr die Erkenntnis, dass die Schweizer Politik eben funktioniert, wie sie funktioniert: Was stören könnte, wird aus dem Weg geschwiegen. Oder überwacht.