"Tot oder weggenommen"? Das Rätsel um eine Zwillingsgeburt oder die Suche nach Claudia
Verdacht Die gefühlte Wahrheit einer Mutter: Kein Grab, keine Gewissheit und Zweifel, die niemals schweigen
Von Simone Esper 12.01.2025
Mittweida, Strausberg. Es gibt Ereignisse, die nie wirklich abgeschlossen sind. Sie verweilen in einem Zwischenraum - zwischen Erinnerung und Zweifel, zwischen Schmerz und einer leisen, unbändigen Hoffnung. Für Gabriele begann eine solche Geschichte im April 1983, in einem Krankenhaus in Mittelsachsen. Es war der Morgen, an dem sie zwei Töchter zur Welt brachte - und nur mit einer nach Hause ging.
Von einen auf den anderen Tag verlassen Gabriele erinnert sich noch genau. Sie und ihr Freund Christian hatten erfahren, dass sie Zwillinge erwarteten. Für sie war es ein Geschenk. Zwei Leben, die in ihrem Körper heranwuchsen, zwei Seelen, die miteinander verbunden waren. Doch für Christian war es zu viel. Die Verantwortung, der Druck - er war nicht bereit. Und so ließ er sie allein. "Ich wusste, dass ich das schaffen würde", sagt sie heute. "Ich hatte Angst, natürlich, aber ich freute mich trotzdem auf meine Kinder."
Die DDR und die Vorschriften bei Zwillingsgeburten Die DDR hatte strenge Vorschriften, besonders bei Zwillingsgeburten. 13 Wochen vor dem errechneten Termin schickte man Gabriele ins Krankenhaus. Sie sollte dort bleiben, bis die Babys geboren waren. Für eine werdende Mutter ohne Partner an ihrer Seite war das eine einsame Zeit. Der Alltag wurde bestimmt von Untersuchungen, langen Tagen im Bett und dem langsamen, regelmäßigen Warten. "Aber ich spürte sie", erinnert sie sich. "Beide. Ihre Bewegungen, ihr Leben. Jeden Tag. Sie waren immer bei mir."
Die widersprüchliche Geburt Dann kam der 7. April 1983. Es war früh am Morgen, als die Wehen einsetzten. Gabriele kämpfte sich durch die Geburt, und um 5:15 Uhr wurde Sandra geboren. Man legte das kleine Mädchen auf ihre Brust, und in diesem Moment fühlte sie nur Liebe. Doch was in den nächsten Minuten geschah, hat sie nie losgelassen.
Ein angeblich totes Mädchen mit der Nabelschnur um den Hals Um 5:20 Uhr, nur fünf Minuten später, kam ihre zweite Tochter zur Welt. Claudia. Aber sie bekam sie nicht zu sehen - zumindest nicht wirklich. Die Ärzte erklärten ihr, Claudia habe die Nabelschnur um den Hals gehabt. "Sie ist tot", sagten sie. Sie wickelten das kleine Mädchen in ein Tuch, zeigten ihr für einen kurzen Moment das Gesicht - und dann war sie weg.
"In ihrer Lage können Sie froh sein, überhaupt ein Kind zu haben..." "Ich kann mich noch genau an diesen Moment erinnern - wie ein Blitz, der alles in mir zerriss", erinnert sich Gabriele. "Sie sprachen von der Nabelschnur, die um ihren Hals lag. Sie wickelten sie in ein Tuch, zeigten mir kurz ihr Gesicht und dann… dann war sie weg. Ich wollte sie halten, wollte sie noch einmal sehen, aber man verweigerte es mir. Stattdessen sagten sie mir, dass ich froh sein sollte, wenigstens ein Kind zu haben. Froh sein? Wie kann man das von einer Mutter verlangen, die gerade ein Kind verloren hat..."
Kein Abschied, kein eigenes Grab Man versprach ihr, sich um alles zu kümmern - um die Beerdigung, um den "Abschluss" der Sache. Aber wie schließt man ab, wenn man etwas nicht fassen kann? Gabriele wollte ihr Kind sehen, sie ein letztes Mal halten. "Das ist nicht nötig", sagte man ihr. Gabriele wollte wissen, wo Claudia begraben werden würde. "Das wird geregelt", beruhigte man sie. Es schien, als wollte man die Sache so schnell wie möglich abschließen.
"Ich fragte, was mit Claudia geschehen würde. Sie sagten mir, ich müsse mir keine Sorgen machen. Sie würde bei jemand anderem mit beerdigt werden. Keine eigene Ruhestätte. Kein Ort, an dem ich sie besuchen könnte. Einfach weg. Ein anderes Leben, ein anderer Abschied. Es fühlte sich an, als würde man nicht nur ihr Leben, sondern auch meinen Schmerz ignorieren - als wäre ich nur eine weitere Nummer im System."
Eine Sterbeurkunde, aber keine Geburtsurkunde und ein Netz aus Zweifeln Von außen betrachtet hätte es eine traurige, aber klare Geschichte sein können. Eine tragische Geburt, ein unerwarteter Tod. Doch schon in den ersten Stunden nach Claudias Geburt begann sich ein Netz aus Zweifeln zu spinnen.Am nächsten Tag erhielt sie Sandras Geburtsurkunde. Ein klares, offizielles Dokument, das die Geburt des einen Kindes bezeugte. Doch für Claudia gab es nur eine Sterbeurkunde. Keine Geburtsurkunde. "Totgeborene Kinder bekommen keine Geburtsurkunde", erklärte man ihr. Ein Satz, der in ihrer Erinnerung wie ein Messer klingt. Totgeboren. Aber war sie das wirklich?
Die Unterschrift auf einem leeren Blatt Es gibt in dieser Geschichte Momente, die sich wie Risse in der Fassade anfühlen. Warum wurde Claudia so schnell fortgebracht? Warum musste Gabriele ein leeres Blatt Papier unterschreiben, ohne zu wissen, wofür es bestimmt war? Warum fühlte sich alles so kalt, so unpersönlich an?
"Man wollte, dass ich die Sache vergesse", sagt die Mittweidaerin heute. "Aber wie soll ich vergessen, was ich in meinem Herzen fühle?" Von außen betrachtet mag es irrational wirken. Es ist Jahrzehnte her, und die Dokumente - die wenigen, die es gibt - erzählen eine klare Geschichte. Doch für Gabriele erzählt ihr Herz eine andere. "Ich weiß, dass sie lebt", sagt sie. "Oder dass sie zumindest damals gelebt hat."
Auf der Suche nach Antworten und ähnlichen Schicksalen Es gibt andere Mütter, die Ähnliches erlebt haben. Geschichten von Kindern, die angeblich tot geboren wurden, von Ungereimtheiten in Krankenhäusern, von leeren Versprechen und kaltem Schweigen. Gabriele hat begonnen, nach Antworten zu suchen. Für sich, aber auch für andere.
"Es geht nicht nur um Claudia, sondern darum, was wahr ist" "Es geht nicht nur um Claudia", sagt sie. "Es geht darum, was richtig ist. Darum, was wahr ist." Vielleicht wird sie die Wahrheit niemals erfahren. Vielleicht bleibt ihre Geschichte ein Rätsel, das niemand lösen kann. Aber für Gabriele ist eines klar: Sie wird nicht aufhören zu suchen.
Eine gefühlte Wahrheit, die kein Dokument auslöschen kann Denn zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was eine Mutter fühlt, gibt es eine Wahrheit, die keine Dokumente und keine kalten Worte auslöschen können. Es ist die Wahrheit eines Herzens, das nie aufgehört hat, für zwei Kinder zu schlagen. Und sogar noch für ein Drittes. Denn wenige Jahre nach der Zwillingsgeburt kam noch ein weiteres Mädchen namens Sindy zur Welt.
Die Zwillingsgeburt von Gabriele in der DDR war voller Zweifel - und das bleibt sie bis zum heutigen Tag. War eines der beiden Mädchen wirklich eine Totgeburt? Foto: Familie privat
Sandra ist das erste Kind der Zwillingsgeburt. Mittlerweile wohnt sie im brandenburgischen Strausberg. Foto: Familie privat
Mutter Gabriele erfuhr harte Worte. Für das angeblich bei der Geburt gestorbene Zwillingskind gab es nicht mal eine Grabstätte. Foto: Familie privat
"Totgeborene Kinder bekommen keine Geburtsurkunde", erklärte man ihr. Ein Satz, der in Gabrieles Erinnerung wie ein Messer klingt. Totgeboren. Aber war sie das wirklich? Foto: Familie privat
Dann kam der 7. April 1983. Es war früh am Morgen, als die Wehen einsetzten. Gabriele kämpfte sich durch die Geburt, und um 5:15 Uhr wurde Sandra geboren. Foto: Familie privat
Wenige Jahre nach der Zwillingsgeburt konnte Gabriele noch ein weiteres Mädchen in ihre Arme schließen: Sindy. Foto: Familie priva
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