In Sachsen-Anhalt werden Jahr für Jahr 1500 sogenannte Kapitalverbrechen begangen - darunter etwa 100 Tötungsdelikte. Die meisten Fälle werden aufgeklärt. Doch bleiben immer noch einige Straftaten übrig und die Täter unerkannt. Die Volksstimme nimmt sich in ihrer Sommerserie gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Polizei einiger dieser Delikte an und fragt: Wer kann Hinweise geben?
Schernikau. Wolfgang Schulz streift am Sonntag, dem 30. November 2008, durch den Forst bei Ladekath im Altmarkkreis Salzwedel. Das Ziel des Jägers ist ein Hochsitz auf einer Waldfläche, die er gepachtet hat. Es ist kurz vor 16 Uhr, als ihm Brandgeruch in die Nase sticht. Wie verkohlte Lumpen, denkt er und vermutet, dass irgendjemand Müll im Wald entsorgt und angezündet hat.
Der Waidmann schaut durch sein Fernglas und sieht ungefähr 100 Meter weiter dunklen Qualm. Er geht darauf zu und findet neben einem kleinen Waldweg ein völlig ausgebranntes Auto.
Der Kombi ist nur noch ein ausgeglühtes Metallgerippe - keine Reifen mehr, die Scheiben fehlen. Der Jäger geht um das Wrack herum und glaubt erst, seinen Augen nicht zu trauen. Seine Haare sträuben sich: Im Kofferaum liegt ein verkohlter menschlicher Körper in sogenannter Kauerstellung mit angehockten Beinen. Schulz greift zum Handy. Er ruft die Polizei an.
An jenem Tag hat Kriminalhauptkommissar Carsten Weschke Bereitschaftsdienst. Der Polizeibeamte übernimmt die Ermittlungen in diesem Fall. "Natürlich war aufgrund der untypischen Auffindesituation des Toten schnell klar, dass es sich um eine Straftat handeln muss", erinnert sich Weschke.
Sven P. war bereits tot, als der Toyota brannte
Anhand des noch lesbaren Nummernschildes SAW-F 562 kann der Halter schnell ermittelt werden. Der einst dunkelgrüne Toyota Avensis Kombi ist auf den Namen eines 36 Jahre alten Mannes aus dem Vissumer Ortsteil Schernikau zuge-lassen.
Ist der Tote im Kofferraum Sven P.?, fragen sich die Ermittler. Oder hat der 36-Jährige vielleicht etwas mit der Tat zu tun? Ist es ein Unbekannter, der im Auto liegt?
"Nachdem wir den Namen des Halters hatten, ergaben unsere Nachforschungen, dass P. von seiner Frau am Sonntag, dem 30. November 2008, vermisst gemeldet worden war. Daniela P. hatte bei der Polizei angegeben, dass sie Sven P. zwei Tage zuvor gegen 17 Uhr auf seiner Arbeitsstelle besucht und mit ihm einige familiäre Dinge besprochen hatte. Das sei das letzte Zusammentreffen gewesen.
Der Vermisste arbeitete in Mechau bei einer Firma, die Isoliermaterial herstellt, als Gabelstaplerfahrer - in Zwölf-Stunden-Schichten.
Dort befragen die Mordermittler Kollegen des Toten. Ihnen war am Tag des Verschwindens nichts Besonderes an Sven P. aufgefallen. Allerdings kann die Polizei den Zeitpunkt, an dem der Schernikauer zum letzten Mal lebend gesehen worden war, nach oben korrigieren. Weschke: "Die Kollegen haben erzählt, dass sich Sven P. am 28. November gegen 22.30 Uhr verabschiedet und nach der Schicht in seinem Toyota den Betrieb verlassen hatte."
Der "Familienmensch" wird als völlig unauffällig, als ruhiger und nicht besonders kommunikativer Zeitgenosse geschildert. Für ihn habe es nur zwei Dinge gegeben: seine Arbeit und sein Zuhause - Hobbys: Null.
Von seiner Arbeitsstelle sind es rund sechs Kilometer bis zu seinem Haus. Doch dort kam er - so zumindest die Zeugenaussagen der damals 37 Jahre alten Ehefrau und des 18-jährigen Stiefsohns - nie an.
Allerdings ergeben sich im Zuge der weiteren Ermittlungen Zweifel an dieser Darstellung der Familie. "Es hat Hinweise darauf gegeben, dass der Toyota von Sven P. nach dem Zeitpunkt, der von den Kollegen angegeben wurde, noch einmal gesehen worden war. Er soll auf dem Grundstück des Opfers gestanden haben", sagt Kriminalhauptkommissar Weschke. Dieser Hinweis habe sich jedoch "nicht erhärten" lassen. Ehefrau und Sohn hätten wie aus einem Munde behauptet: Das kann nicht sein!
Die DNA-Analyse der Rechtsmedizin Hannover ergibt eindeutig, dass es sich bei dem bis zur Unkenntlichkeit Verbrannten um P. handelt. Die rechtsmedizinischen Untersuchungen stellen fest, dass es auszuschließen ist, dass das Opfer nach der äußeren Gewaltanwendung noch gelebt hatte, als das Auto brannte. Durch den Zustand der Leiche ließ sich die Todesursache jedoch nicht mit letzter Sicherheit eingrenzen.
Im Bezug auf den Toyota stellen Experten für Autobrände fest, dass sogenannte Brandbeschleuniger eingesetzt worden waren. Das Fahrzeug war also mit der Leiche an Bord vorsätzlich in Brand gesteckt worden.
Ermittlungsverfahren vorläufig eingestellt
Soweit zu den Fakten. Doch viele Fragen bleiben trotz intensiver Ermittlungen der Mordkommission offen. So konnte bis heute die Todeszeit aufgrund des Leichenzustands nicht eingeschränkt werden. Die Schere klafft zwischen dem Abend des Verschwindens (Freitag, 28. November) und dem Auffindenachmittag (Sonntag, 30. November).
Der Jäger, der das ausgebrannte Fahrzeug fand, hatte zwar davon gesprochen, dass er an Baumrinde, Gestrüpp und am Waldboden vereinzelt noch kleine Flämmchen gesehen habe. Doch aufgrund dessen davon auszugehen, dass die Tat erst kurze Zeit zuvor geschehen war, sei nicht angebracht, sagt Weschke.
Untersuchungen hätten ergeben, dass ein Fahrzeug nach etwa zwei Stunden völlig ausbrennt. Da der Fundort jedoch nicht der Tatort gewesen sei, brächte das die Ermittler in punkto Todeszeitpunkt trotzdem nicht weiter.
Bei den sogenannten Umfeldermittlungen erfährt die Kripo, dass das Verhältnis zwischen Sven P. und seinem Stiefsohn Michael nicht gut gewesen ist. Der arbeitsame Vater hatte den aus seiner Sicht "faulen Stiefsohn", der "nur abhängt", immer wieder aufgefordert, sich zu bewegen, etwas zu tun und nicht nur auf der faulen Haut zu liegen. Hausarbeiten habe der 18-Jährige nur murrend, zumeist gar nicht, übernommen.
Der sonst so augeglichene Sven P. sei in solchen Augenblicken nicht mehr so ruhig geblieben. Allerdings habe es nie körperliche Auseinandersetzungen zwischen Vater und Stiefsohn gegeben.
"Nachdem wir alle objektiven und subjektiven Ermittlungsergebnisse zusammengetragen hatten, ergab sich für uns ein klarer Tatverdacht gegen die Ehefrau und den Stiefsohn", berichtet Weschke und spricht von "Ungereimtheiten und Widersprüchen in den Aussagen".
Dieser Verdacht führt dazu, dass die 37-Jährige und der 18-Jährige als "Beschuldigte" vernommen werden und das Amtsgericht auf Antrag der Stendaler Staatsanwaltschaft eine Hausdurchsuchung in Schernikau anordnet.
Am 24. Februar 2009 wird das Grundstück komplett auf den Kopf gestellt. Der zweite Pkw der Familie wird im Bereich der Arbeitsstelle der Ehefrau durch die Polizei untersucht. Doch trotz der gründlichen Arbeit bringt auch diese Durchsuchung nicht den erhofften Durchbruch im Fall der "Altmärker Kofferaumleiche".
Die beiden Beschuldigten streiten die Tat vehement ab. Allerdings - so der Ermittler - stößt die Kripo bei den Befragungen "auf neue Widersprüche".
Bis Ende 2009 ermittelt die Mordkommission der Polizeidirektion Nord (Magdeburg). Dann wird der Fall nach Paragraf 170 Strafprozessordnung (Ein Verfahren wird vorläufig eingestellt, wenn die Staatsanwaltschaft nicht genügend Anlass sieht, öffentliche Klage zu erheben).
Auch die hinzugezogene Gruppe "Operative Fallanalyse" des Landeskriminalamts konnte letztlich keinen eindeutigen Nachweis für eine Täterschaft bringen.
Allerdings unterstützte das LKA die These ihrer ermittelnden Kollegen, dass der oder die Täter aus dem unmittelbaren Umfeld des Opfers kommen müssen. Dass die Tat von einem Außenstehenden begangen wurde, sei eher auszuschließen.
Am Morgen, nachdem das ausgebrannte Auto neben dem Waldweg gefunden worden war, beenden die Kriminaltechniker ihre Arbeit. Die Stelle, wo der Toyota stand, ist durch Absperrkegel gekennzeichnet. Archivfoto
Der vollkommen ausgebrannte Toyota-Kombi Foto: Polizei
Admin und Foren Moderatorin Hinweise zu den hier aufgeführten Fällen bitte an die zuständige Polizeidienststelle