Nach 55 Jahren sucht eine Stadt einen Mörder 1959 bekam der Pförtner Antonio Ciccarello in Manhattan ein Messer in den Rücken gerammt. Erst jetzt ist er an den Folgen gestorben, mit 97 Jahren. Nun will die Polizei den Fall aufklären.
Von Hannes Stein , New York
97 Jahre alt wurde Antonio Ciccarello, ein Pförtner aus Manhattan, den alle Welt "Tony" nannte. Dann starb er friedlich in seinem Bett. Und plötzlich stellte sich heraus, dass er einem Mord zum Opfer gefallen war: Er war erstochen worden. Allerdings ist das jetzt schon 55 Jahre her.
Soll man die Geschichte von Antonio Ciccarello als "typische Einwanderergeschichte" bezeichnen? Was ist überhaupt eine typische Einwanderergeschichte? Er wurde am 5. September 1917 in Des Moines (US-Bundesstaat Iowa) geboren. Als er zwei Jahre alt war, gingen seine Eltern nach Sizilien zurück und nahmen ihn mit. Er arbeitete auf einem Bauernhof, er arbeitete hart. Als er zehn war, gaben seine Eltern ihn weg. Danach arbeitete er als Schäfer.
Manchmal schlief er auf der nackten Erde. Irgendwann erinnerte er sich, dass er eigentlich Amerikaner war und dass ihn dort drüben in der Neuen Welt vielleicht ein besseres Leben erwartete. 1951 wagte er den Sprung – da war er 34 Jahre alt. Die Dokumente der Einwanderungsbehörde zeigen, dass er seine Familie mitbrachte – seine Frau Carmela und zwei Kinder, Salvatore und Angela.
Sie wohnten beengt in einem winzigen Apartment im East Village, im Südosten von Manhattan. 1957 wurde dort Antonio Ciccarellos Tochter Mary geboren, die heute mit Nachnamen Paloglou heißt. Sie erinnert sich, dass es eine raue Gegend war. Sie erinnert sich auch noch an die Nacht, als ihr Vater mit einem Messer angegriffen wurde.
Die Tochter erinnert sich noch an die Tatnacht
"Er ging von der East Fifth Street und Avenue C aus", erzählte sie der "New York Times". "Es war ein verregneter Morgen, ungefähr vier Uhr. Er trug einen altmodischen Regenmantel." Antonio Ciccarello war unterwegs zur Arbeit in einem Gebäude in der Nähe des Times Square, seinen grünen Mantel hatte er fest um sich geschlungen, zum Schutz gegen die nasse Kälte, als er plötzlich aus dem Nirgendwo einen Schlag gegen seinen Rücken spürte. Eigentlich wollte er danach immer noch zur Arbeit gehen, aber dann sah er das Blut und ging heim.
"Ich erinnere mich, dass ich meine Mutter schreien hörte", sagte Mary Paloglou. Antonio Ciccarello kam in die Notaufnahme. Er wurde operiert. Hinterher hatte er eine lange Narbe vom Brustbein bis zum Bauchnabel – und eine Geschichte, die in der Familie wieder und wieder erzählt wurde.
Als Antonio Ciccarello im Maimonides Medical Center in Brooklyn starb, stand in seiner Krankenakte, dass er wegen eines Messerstichs in Behandlung gewesen war – also wurde er obduziert. Die Obduktion ergab, dass die Todesursache ein Eingeweidebruch in Folge jener Operation war, die einst sein Leben gerettet hatte. Damit war das Ganze ein Kriminalfall geworden.
332 Morde wurden anno 2014 in New York registriert – so wenige wie nie zuvor in der Stadtgeschichte. Der verspätete Mord von Antonio Ciccarello war einer von ihnen. Zwei Detektive des New York Police Department wurden abgestellt, um sich mit ihm zu beschäftigen. Sie haben sich über Mikrofiche-Reproduktionen von uralten Akten gebeugt und nach Krankenblättern gesucht – sie glauben, Antonio Ciccarello könnte damals im Bellevue Hospital Center behandelt worden sein, aber ganz sicher sind sie sich ihrer Sache nicht.
Keine Spur, keine Beweise, keine Zeugen
Sie haben nach ehemaligen Kollegen des Pförtners gesucht. Bisher haben die Detektive nichts gefunden: keine Spur, keine Zeugen, keine Beweise für irgendetwas. Vielleicht war der Messerstecher ein Irrer, der aus der Dunkelheit aufgetaucht und wieder in ihr verschwunden ist. Vielleicht hat Antonio Ciccarello den Messerstecher sogar gekannt. Wer will das wissen? Der Mensch, der Auskunft geben könnte, liegt jetzt in einem dunklen Grab und schweigt.
Allerdings schweigt natürlich auch der andere, der etwas über die Tat wusste. Der Täter. "Der Mensch, der auf meinen Vater eingestochen hat, ist vermutlich schon tot", sagt Mary Paloglou. "Schon seit Langem." Aber das New York Police Department ermittelt trotzdem weiter – Dienst ist schließlich Dienst. Es ermittelt mit derselben Verve, mit der Don Quichotte einst auf jene berühmten Windmühlen losgaloppiert ist.
Wir dürfen uns, während wir das Schauspiel betrachten, an einen weisen Satz von John Maynard Keynes erinnern: "Auf lange Sicht und im statistischen Durchschnitt sind wir alle tot." Wenn über die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz gesprochen wird, dann denken die meisten Leute an die Vergänglichkeit des menschlichen Glücks – und sie vergessen dabei, dass auch noch etwas ganz anderes vergänglich ist: das menschliche Leid. Nur wird das nicht immer so offenkundig wie in diesem Fall, wo ein Opfer, wie es scheint, seinen Mörder überlebt hat – um ihm dann nachzufolgen in den Tod.
Übrigens war Antonio Ciccarello geistig rege bis zuletzt. Er lebte allein in einer Wohnung in Bensonhurst, einem Teil von Brooklyn, in dem sich viele italienischstämmige Amerikaner niedergelassen haben; eine Woche vor seinem Ableben versammelten sich drei Dutzend Verwandte und Freunde, um mit ihm seinen Geburtstag zu feiern. Seine Tochter besuchte ihn jedes Wochenende, um für ihn zu kochen. Er war nicht arm, einsam und unglücklich, dieser arme Junge aus Sizilien, der in Amerika ein besseres Leben suchte. Auch ein Messerstich konnte daran nichts ändern.