Verschollen: Ralf Wegner aus Hamburg verschwand 1999 auf Korsika. Verunglückt? Ermordet? Oder abgetaucht? Seine Eltern suchen ihn in ganz Europa. Ein Fall von Hunderten in Deutschland.
Von Jens Meyer-Odewald
Löningen/Kisdorf. Seit fünf Wochen finden Edith und Siegfried Wegner (72) kaum noch Schlaf. Wegen dieses abendlichen Telefonanrufs, der frischvernarbte Wunden aufriß und einen winzigen Hoffnungsschimmer keimen ließ: Kann es sein, daß ihr Sohn doch noch lebt? Wird alles gut? Werden ihre täglichen Gebete doch erhört?
Seit fünf Jahren gibt es kein Lebenszeichen von Ralf Wegner. Seit jener Sommernacht vom 29. auf den 30. August 1999, als sich "Ralle" in dem kleinen Ort Corte auf Korsika von seinen Freunden verabschiedete: "Bis gleich!" Seither ist der damals 28 Jahre alte Hamburger wie vom Erdboden verschwunden - allen polizeilichen Fahndungen und privaten Nachforschungen zum Trotz. "Vermißt! Disparu! Missing!" prangt auf Hunderttausenden Flugblättern und Plakaten, die Ralfs Eltern in Europa verteilt haben.
Daß die Fahndungsakte Wegner beileibe nicht der einzige Fall dieser Art ist, dokumentieren aktuelle Daten des Bundeskriminalamts in Wiesbaden. Rund 5400 Menschen in Deutschland werden vermißt. Sie sind weg, einfach so, von Eltern, Ehepartnern, Freunden, Mitschülern oder Arbeitskollegen nie mehr gesehen.
Menschen wie Ralf Wegner. Mühsam rekonstruierten die französische und deutsche Polizei jene Nacht, in der das Rätselhafte geschah. Es gibt keine Indizien. Für nichts. Von Verschleppung, Mord, Selbstmord bis zum freiwilligen Abtauchen ist alles denkbar. Oder jenes Szenario, das mancher aus dem Freundeskreis des lebensfrohen Wirtschaftsinformatikers aus Hamburg-Stellingen für möglich hält: daß Ralf nach einem Überfall oder Unfall sein Gedächtnis verlor und orientierungslos umherirrt oder irgendwo unerkannt unterkam.
Dafür könnte eine Zeugenaussage sprechen, wonach Ralf Wegner im Morgengrauen des 30. August 1999 in einem silberfarbenen Golf gesehen worden sei. "Aber warum soll Ralf da mitgefahren sein?" fragt der Vater. Weder die mitgereisten Freunde noch andere Zeugen können etwas Auffälliges berichten. Der stämmige Norddeutsche mit dem lichten Haar sei "gut drauf" gewesen: kein Streit, keine Frauen, nur ein paar Bier, das war's. Warum "Ralle" nicht mit den anderen zum Campingplatz zurückging, ist unklar. Eine Laune? Oder steckt mehr dahinter?
"Die Kollegen auf Korsika haben alles mögliche in Bewegung gesetzt", sagt der Kriminalpolizist Detlef Kapischke (50) vom Kommissariat 27 an der Koppelstraße in Stellingen. Die französische Polizei habe Hundestaffeln, Hubschrauber, Infrarot-Suchgeräte und Taucher mobilisiert. Ergebnis: null. Kapischke, der viel Zeit und noch mehr Herzblut in die Sache investierte und auch Ralf Wegners Wohnung in der Nähe der Kieler Straße durchsuchte, rechnet kaum noch mit einem Durchbruch: "Leider, leider spricht nach so langer Zeit die kriminalistische Erfahrung dagegen." Zwei Fernsehaufrufe hätten "keinerlei Erkenntnisse" gebracht. Nur Trittbrettfahrer, weil Vater Wegner 20 000 Euro Belohnung aussetzte.
"Ich glaube, daß Ralf lebt", sagt er. Im Gegensatz zu seiner Ehefrau, die nach den entsetzlichen Jahren der Ungewißheit einen Hauch inneren Frieden für beide sucht, fahndet der frühere Bauunternehmer weiter - unentwegt, ruhelos, mit aller Lebensenergie. "Ehe nicht jeder in Europa weiß, daß Ralf weg ist, muß ich weitermachen", sagt er. Rastlos zieht er durch Deutschland, Korsika, an der Mittelmeerküste entlang. Mehr als 150 000 Flugblatt-Kopien hat er im Keller seines Hauses angefertigt. Hinzu kommen mehr als 200 000 Drucksachen.
Beinahe jede der 15 500 deutschen Tankstellen, jede Autobahnraststätte, viele Politiker, Zeitungen und Speditionen erhielten Post aus Löningen. Mehr als zehnmal reiste Siegfried Wegner nach Korsika. Vergebens. Bis auf dieses merkwürdige Gespräch in einem Bistro bei Corte. "Ihr Sohn ist einer tragischen Verwechslung zum Opfer gefallen", meinte ein Fremder. "Er wurde für einen französischen Politiker gehalten und ermordet." Wo aber ist dann die Leiche?
"Tragisch ist das Unbegreifliche - es gibt ja nichts Konkretes als Trost", weiß Monika Bruhns von der "Elterninitiative vermißte Kinder" in Kisdorf bei Kaltenkirchen. Gemeinsam mit Bettina König, Angelika Hamm, Eva Bünnig und zehn anderen Mitstreitern kämpft sie für jene (kleinen) Menschen, die von heute auf morgen spurlos verschwunden sind. Kein Fall ist wie der andere, jeder ist ein Drama für sich.
Zum Beispiel das Verschwinden des Musikwissenschaftlers Martin Hoyer aus Buchholz. Beim Bergwandern mit seinen Eltern, merkwürdigerweise ebenfalls auf Korsika, ist der fröhliche junge Mann mit der Kunststoffbrille auf einmal wie vom Erdboden verschwunden. Seit Oktober 1992 fehlt jede Spur von dem damals 26jährigen.
Auch die Familie der verschollenen Seike Sörensen aus dem schleswig-holsteinischen Drelsdorf lebt seit dem 5. August 1993 in zermürbender Qual. Nach dem Mittagessen wollte die seinerzeit Elfjährige vom Hof der Eltern zur Großmutter radeln. Dort kam sie niemals an. Seitdem ist Seike weg. Die Angehörigen hoffen, daß ihre Kleine wenigstens nicht leiden mußte. Oder muß?
Wie die Elterninitiative aus Kisdorf kümmern sich couragierte Bürger bundesweit in 17 Organisationen um das Auffinden Verschollener. Einzelne Erfolge machen Mut. "In den letzten fünf Jahren konnten wir von Kisdorf aus 35 Fälle glücklich lösen", sagt Monika Bruhns. Mit Internet-Auftritten (http://www.vermisste-kinder.de), Informationsständen und dem "Tag des vermissten Kindes" immer im Mai.
"Diese Solidarität gibt Kraft", sagt Siegfried Wegner. Unermüdlich sucht er weiter. Erst recht nach jenem abendlichen Telefonanruf vor fünf Wochen, der gerade vernarbte Wunden plötzlich wieder aufriß. "Ich habe einen Mann gesehen, der Ihr Sohn sein könnte", meinte der Anrufer, der der Polizei namentlich bekannt ist. In Ungarn, am Plattensee, sei das gewesen. Dieser Mann habe ein schwarzes T-Shirt jenes Designs getragen, mit dem europaweit nach Ralf Wegner gefahndet wird. Vor einigen Jahren von einer US-Universität bedruckt, gibt es davon in der Welt nicht mehr viele. Kein Wunder, daß die Wegners nach diesem winzigen Hoffnungsschimmer wieder schwerer denn je in den Schlaf finden.
Wer hat Ralf Wegner gesehen oder kann sonstige Angaben machen?
Februar 18, 2013
BESCHREIBUNG
Alter: 28 Jahre (inzwischen 42 Jahre
Größe: 178 cm
Gewicht: 85 kg
Statur: kräftig
Haare: kurz mittelblond mit Ansatz zur Glatze, bei längerem Haar naturkraus
Augenfarbe: blaugrau
Schuhgröße: 40/41
Besonderheiten: schnellsprechend, Linkshänder, schreibt jedoch mit rechts
Da man inzwischen einen Unglücksfall / Absturz in eine Schlucht nahezu auszuschließen kann, bleibt die Frage, warum Ralf so spurlos verschwunden ist. Ist er das Opfer eines Verbrechens geworden? Nun, so ganz ausschließen kann man diese Möglichkeit nicht, andererseits halte ich es aber aus verschiedenen Gründen für unwahrscheinlich, zumal es keinerlei Hinweise dafür gibt. Aber auch die Vermutung, daß er bewußt untergetaucht ist, paßt nicht in das Bild von diesem jungen Mann. Warum sollte er denn alles aufgeben, wenn es ihm eigentlich gut ging, er keine Sorgen oder Nöte hatte? Nach Auskunft seines Vaters hatte Ralf einen interessanten und sicheren Job und mit der Familie und dem Freundeskreis war auch alles in Ordnung.Es gibt noch weitere Theorien, alle ohne sachliche Anhaltspunkte. Allerding finde ich eine Version sehr interessant und halte sie für durchaus möglich:
Was wäre, wenn Ralf doch einen Unfall gehabt hat - einen simplen Verkehrsunfall, nicht schwer oder sogar tödlich. Bei solch einem Unfall könnte Ralf eine Amnesie (Gedächtnisverlust) erlitten haben. Möglicherweise hat ihn der erwähnte silberne Golf angefahren, als er die Straße zum Campingplatz ging. Der Fahrzeugführer geriet in Panik und hat Ralf einfach mitgenommen....
Der Vermisstenfall Ralf Wegner ist hier einer von mehreren Fällen, die in dem Artikel geschildert werden.
13.11.2013
Vermisst
....
Wie lange muss man suchen, wie lange kann man? Nach Jahren raten die Beamten, allmählich abzuschließen.
Siegfried Wegner, 72, weigert sich. Sein Sohn Ralf verschwand am 30. August 1999 in der Kleinstadt Corte auf Korsika. Die Suche nach ihm betreibt er wie die Leitung eines kleinen Unternehmens. Angst wandelt er in Arbeit um. 182000 Flugblätter verschickt. 240000 Plakate verteilt. Überall in Mitteleuropa hängen Wegners Hilferufe. Der betagte Kopierer im Obergeschoss des Einfamilienhauses in Löningen bei Cloppenburg klappert drei bis vier Stunden täglich. Um Zeit zu sparen, bedient Wegner den Faxapparat gleichzeitig und klebt nebenher Briefe. Ein eigenes Büro hat sich der 72-jährige Bauunternehmer dafür eingerichtet. Im Regal stehen aufgereiht Sprühdosen für das Kleben von Plakaten. In Stapeln von Pappkartons lagern Tausende neuer Banderolen, die er an Laternen und Telefonzellen anbringt. Vermisst. Disparu. Missing. 20000 Euro Belohnung. Ralf Wegner. Dazu das alte Bewerbungsfoto des jungen Mannes. Die Prämie hat der Vater in den vergangenen Jahren immer mehr erhöht. Er führt gewissenhaft Buch, ein verzweifelter Versuch, Kontrolle zu erlangen, wo keine Kontrolle mehr ist. „Bis nicht jeder in Europa weiß, dass der Ralle weg ist, habe ich noch nicht genug getan.“
Ralf, genannt Ralle: stämmig, 28 Jahre, Jüngster von drei Brüdern, ausgeprägte Glatzenbildung, Wirtschaftsinformatiker mit Traumjob in Hamburg. Kommunikativ, ein Spaßvogel, mit sich und der Welt offenbar im Reinen. Zelten war er mit drei Freunden auf Korsika, ein paar Dosen Bier hatten sie abends getrunken in einer Bar, auf dem Rückweg zum Campingplatz ging er verloren. „Hallo, Ihr Lieben“, schreibt er auf eine Postkarte, abgestempelt am Tag seines Verschwindens. „Alles Gute wünscht Euch Sohn Ralf. Wir lassen es uns hier sehr gut gehen, bis dann.“ Oft war das Ehepaar Wegner seither auf Korsika. In Südfrankreich. Auf deutschen Autobahnen, an dessen Raststätten. Ralf hängt schon an so vielen Plätzen. In Deutschland trifft man auf Orte, da kleben vier Generationen von Wegner-Banderolen. Die ältesten, die sie vor Jahren anbrachten, sind bereits völlig ausgebleicht. Unermüdlich haben sie ihren Jungen gesucht. Edith Wegner rät ihrem Siegfried, nun aufzuhören. „Ralf ist doch tot.“ „Nein!“, widerspricht er. „Ich glaube, er ist noch am Leben!“
Der Kopierer arbeitet rastlos. Das Material spendet ein Papierhersteller, Ralfs alter Arbeitgeber. Sämtliche Tankstellen der Republik schreibt Wegner an. „Esso durch, Aral durch, jetzt bin ich bei Shell.“ Jeden Tag ein Bundestagsabgeordneter, jeden Tag ein EU-Parlamentarier. Die Hinweise werden spärlicher. Vor drei Jahren rief einer aus Marseille an, der glaubte, Ralf immer in einer Hafenkneipe zu sehen. Aufgeregt alarmierten Wegners die Polizei. Die Beamten fanden nicht Ralf, dafür einen anderen jungen Deutschen. Der galt damals bereits seit sechs Jahren als vermisst. Wegners fuhren wieder heim.
„Sind alle Jungens da?“, fragte Ralfs Großvater zwei Tage vor seinem Tod. Zu dieser Zeit war der Enkel schon drei Jahre weg. „Ja, sind alle da“, log Siegfried Wegner am Krankenbett. „Ich traute mich nicht, die Wahrheit zu sagen.“
Im Obergeschoss lagern die Habseligkeiten des Sohnes. Ein unsichtbarer Gast, dessen Umzugskartons fast die Hälfte des Hauses ausfüllen. Die Mutter betritt diese Räume nie. Das Tanzen haben sie aufgegeben, seit ihr Jüngster weg ist. Feste in der Kleinstadt besuchen sie nur noch selten. „Die anderen können doch nicht richtig feiern, wenn wir da sind.“ Der Vater entdeckt in einem Karton den Parfümzerstäuber, den sie auf Korsika in Ralfs Zelt fanden. „Oh“, sagt er überrascht. „Der funktioniert ja.“ Noch lange hängt der Duft im Zimmer.