Vermisst wird ... Teil I Das Schachspiel als Sucht 11.04.2012 - 06:00 Uhr Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie) Heinz Siebold
Und dann das Schachspiel. Auch das sei eine Art Sucht gewesen, glaubt Helga Siegel. „Schach, immer nur Schach“, Georg sei geradezu besessen davon gewesen, Bridge und Backgammon waren eher Spielereien. Er wollte Großmeister und Profi werden und hat den Titel des Internationalen Meisters errungen – als Einziger in Freiburg. Schon als Zwölfjähriger beeindruckte er alte Hasen beim Blitzschach. 1981 wurde er Deutscher Jugendmeister, 1995 Schnellschachmeister.
Der Kabarettist Matthias Deutschmann, selber ein erstklassiger Schachspieler, lernte Georg in den 1970er Jahren kennen und spielte mit ihm in einer Mannschaft. „Ein Ausnahmetalent“, erinnert sich Deutschmann. „Das, was man einen kompletten Spieler nennt. In allen Phasen der Partie spielte er stark und verbrauchte wenig Zeit.“
Als er von dem tragischen Unfall an der Dreisam hörte, spielte Deutschmann als ganz persönliche Kondolenz die besten Partien von Siegel nach. „Die Schachleidenschaft ist nicht nur eine Quelle der Freude, sondern auch eine der Melancholie und des Trübsinns“, sagt Deutschmann und erinnert an ganz berühmte tragische Figuren, die die Schachwelt zeitweise dominierten, von Paul Morphy bis hin zu Bobby Fischer.
Deutscher Meister mit Bayern München
Vielleicht ist das auch bei Siegel so gewesen. Sicher haben sich die euphorischen und die düsteren Phasen bei dem Schachspieler und dem Menschen Georg Siegel häufig abgewechselt. Auf der einen Seite Deutscher Mannschaftsmeister mit Bayern München, auf der anderen Seite die depressiven Anfälle, die unvermittelten und schwer erträglichen Attacken auf seine Umwelt. Wenn er Mitspieler angeschrien und beleidigt hat. Wenn er Versprechen nicht hielt, seine Medikamente nicht nahm und nicht aufhörte, Haschisch zu rauchen. Wenn er nichts aß, das Essenspaket der Mutter verschimmeln ließ. „Er hat sein Leben nicht im Griff gehabt und konnte den Alltag nicht meistern“, sagt Helga Siegel und kämpft vergebens gegen die Tränen.
Am Tag zuvor war er noch beim Mittagessen bei der Mutter, da haben sie sich zum letzten Mal gesehen. Alle Spekulationen, dass er den Wassermassen entkommen und irgendwo noch am Leben sein könnte, sind für Helga Siegel völlig abwegig. Hätte er abhauen und irgendwo anders ein neues Leben beginnen können? „Nein, auf keinen Fall“. Will heißen: wer so etwas annimmt, kennt meinen Sohn nicht.
Sie hat ihn selber nicht mehr so richtig gekannt. Georg, zum Zeitpunkt des Unfalls 48 Jahre alt, war einer von vier Buben und zwei Mädchen, die Helga Siegel zur Welt gebracht hat. Georg war ihr drittes Kind, also nicht das Nesthäkchen, aber er blieb irgendwie der Kleinste. Noch mit 48 sah er aus wie ein Junge, schlaksig. „Er war krank“, seufzt die Mutter.
Verloren hatte sie den Sohn innerlich ein Stück weit schon lange vor seinem Sturz in die Dreisam. Er war autistisch, manisch depressiv, mit 20 Jahren kam Georg zum ersten Mal in die Psychiatrische Anstalt in Emmendingen. Die Schule hatte er abgebrochen, in Mathematik war er sehr gut gewesen. „Aber das Haschisch“ – Helga Siegel schüttelt den Kopf und blickt nach unten. Erklären kann sie sich das alles nicht, die Familie war intakt, der Vater ein anständiger Lehrer an einer Freiburger Schule, engagiert in vielen Vereinen, beliebt und kein Haustyrann.
Das Schachspiel als Sucht
Und dann das Schachspiel. Auch das sei eine Art Sucht gewesen, glaubt Helga Siegel. „Schach, immer nur Schach“, Georg sei geradezu besessen davon gewesen, Bridge und Backgammon waren eher Spielereien. Er wollte Großmeister und Profi werden und hat den Titel des Internationalen Meisters errungen – als Einziger in Freiburg. Schon als Zwölfjähriger beeindruckte er alte Hasen beim Blitzschach. 1981 wurde er Deutscher Jugendmeister, 1995 Schnellschachmeister.
Der Kabarettist Matthias Deutschmann, selber ein erstklassiger Schachspieler, lernte Georg in den 1970er Jahren kennen und spielte mit ihm in einer Mannschaft. „Ein Ausnahmetalent“, erinnert sich Deutschmann. „Das, was man einen kompletten Spieler nennt. In allen Phasen der Partie spielte er stark und verbrauchte wenig Zeit.“
Als er von dem tragischen Unfall an der Dreisam hörte, spielte Deutschmann als ganz persönliche Kondolenz die besten Partien von Siegel nach. „Die Schachleidenschaft ist nicht nur eine Quelle der Freude, sondern auch eine der Melancholie und des Trübsinns“, sagt Deutschmann und erinnert an ganz berühmte tragische Figuren, die die Schachwelt zeitweise dominierten, von Paul Morphy bis hin zu Bobby Fischer.
Deutscher Meister mit Bayern München
Vielleicht ist das auch bei Siegel so gewesen. Sicher haben sich die euphorischen und die düsteren Phasen bei dem Schachspieler und dem Menschen Georg Siegel häufig abgewechselt. Auf der einen Seite Deutscher Mannschaftsmeister mit Bayern München, auf der anderen Seite die depressiven Anfälle, die unvermittelten und schwer erträglichen Attacken auf seine Umwelt. Wenn er Mitspieler angeschrien und beleidigt hat. Wenn er Versprechen nicht hielt, seine Medikamente nicht nahm und nicht aufhörte, Haschisch zu rauchen. Wenn er nichts aß, das Essenspaket der Mutter verschimmeln ließ. „Er hat sein Leben nicht im Griff gehabt und konnte den Alltag nicht meistern“, sagt Helga Siegel und kämpft vergebens gegen die Tränen.
Dass sie ihn, der ihr so viel Kummer bereitet hat, dennoch in guter Erinnerung behalten kann, ist das Verdienst der Schachgemeinde. Die bestürzten Spielerkollegen richteten, als sich der Unfall in Windeseile herumsprach, ein Kondolenzbuch im Internet ein, und die Beileidsbezeugungen haben Mutter und Geschwister überrascht. Und auch auf eine gewisse Weise mit ihm versöhnt. „Baden hat das größte Schachtalent der Neuzeit verloren“, schreibt ein Spielerkollege aus Viernheim. Auch andere rühmen ihn mit rührenden Worten: Ein „Meister der Leichtigkeit“, ein „Freund“, ein „netter Kerl“. Aber eben auch ein „Wanderer zwischen den Welten“. Betroffenheit, Trauer, durchweg Äußerungen, die ehrlich klingen und zeigen, dass Georgie, wie ihn die Szene nannte, manchmal ein Anderer sein konnte als im anderen Leben.
„Wir haben dann im nächsten Frühjahr eine Trauerfeier gemacht“, erzählt Helga Siegel, „da waren über 100 Leute, und da habe ich auch ein wenig Frieden dadurch gefunden.“
Georg Siegel ist bis heute verschwunden. Wie kann so etwas sein, kann man einfach ins Nichts verschwinden? „Es gibt nichts, was es nicht gibt“, sagt Friedbert Hahne, der Leiter des Dezernats 11 bei der Polizeidirektion Freiburg. Vermisste gehören in seine Zuständigkeit. Der 56-Jährige ist seit drei Dekaden bei der Polizei, er kennt viele Vermisstenfälle, kann auch detailliert erzählen, was man lieber nicht hören will. Etwa, wie Wasserleichen nach Monaten oder Jahren aussehen, wo sie sich verhaken können, was Tiere damit anfangen können.
Die Leiche wird nicht gefunden
Es wurde aber weder in der Dreisam noch im Rhein eine Leiche gefunden, die als Georg Siegel identifiziert werden konnte. Das Landeskriminalamt und das Bundeskriminalamt haben Zentralstellen, so kann bei jedem Leichenfund geforscht werden, ob es sich um eine vermisste Person handelt. Vorausgesetzt, es gibt genetisches Vergleichsmaterial oder andere unverwechselbare Merkmale.
Auch Kriminalhauptkommissar Hahne sieht keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich Georg Siegel aus dem Staub gemacht haben könnte, allein schon, weil es ein schwerer Unfall war und kein unerklärliches Verschwinden. „Wer abhaut, hat meist einen irgendwie erkennbaren Grund“, sagt Hahne. Ist vielleicht todkrank und will sich fern der Heimat das Leben nehmen.
Oder ist pleite oder will keinen Unterhalt zahlen. Manche verraten sich, wenn sie nach einer Weile Geld vom heimischen Konto abheben. Nur wenige der Langzeitvermissten, im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Freiburg derzeit keine zwei Dutzend, tauchen wieder auf. Frühestens nach einem Jahr können Angehörige beim Amtsgericht beantragen, einen verunglückten Vermissten für tot zu erklären. Bei jemandem, der ohne lebensgefährlichen Unfall verschwunden ist, dauert es mindestens zehn Jahre. Das Gericht ermittelt dann noch einmal alle Umstände des Geschehens, und falls es keine Indizien dafür gibt, dass er oder sie noch lebt, wird ein „Aufgebot“ veröffentlicht. Falls auch dieses ergebnislos bleibt, ist der Fall amtlich abgeschlossen.
In der Stube steht ein großes Foto von Georg
„Nein, er wird nicht zurückkommen“, davon ist Helga Siegel überzeugt, sie wird beantragen, ihren Sohn Georg für tot zu erklären. Sie hat sich schweren Herzens mit dem Verlust abgefunden. So wie sie sich bereits mit dem frühen Tod eines anderen Sohnes abfinden musste, der 1997 in Spanien starb, er hatte ein nicht entdecktes Aneurysma, eine Schwachstelle in einer Arterie, die platzte, als er im Meer surfte. Auch ihren Mann hat Helga Siegel urplötzlich verloren. Im Jahre 2008, zwei Jahre vor Georg, starb er mit 73 Jahren völlig unerwartet an einer Lungenembolie. Sein Leben lang sei er nicht krank gewesen, sagt die verwitwete Frau.
Nun muss sie allein mit allem fertig werden. „Sich immer wieder bewusst am Leben zu freuen und sich nicht zu sehr ins Leid hineinzusteigern“, hat sie sich fest vorgenommen. Das große Foto von Georg hat sie aus der Stube genommen und in sein Zimmer gestellt. Ja, doch, die Kinder und die Enkel sind präsent, wenn auch nicht immer da. Helga Siegel setzt sich nicht auf das Sofa ihres kleinen Eigenheims und wartet, sie ist ständig in Bewegung. Eine 95 Jahre alte Tante im Altersheim und etliche, teils behinderte alte Frauen warten jeden Tag auf ihren Besuch und die Einkäufe. Helga Siegel macht Gymnastik, Walking – und Volkstanz in der Kirchengemeinde. Und sie fährt Rad, kommt oft unter der Schwabentorbrücke an der Dreisam vorbei. Dort, wo Georg zum letzten Mal gesehen wurde. „Ja“, sagt Helga Siegel, „ich denke an ihn. Ich kann jetzt an ihn denken.“