Anna, 3729. Oktober 2014 11:03; Akt: 29.10.2014 13:32 «Vergewaltigungen waren nicht das Schlimmste»
von N. Glaus -
Ein Frauenhändler verschleppte Anna* mit 19 Jahren in die Schweiz. Im Interview erzählt sie, wie sie zur Prostitution gezwungen wurde und sich schliesslich befreien konnte.
«Die Zeit heilt die Schmerzen der Vergangenheit nur, wenn wir uns mit dem Schmerz auseinandersetzen und lernen, damit zu leben», erzählt Anna.
Diese bewegte Geschichte zeigt der Film «Anna in Switzerland».
Der Film läuft ab dem 30. Oktober in verschiedenen Schweizer Kinos. Dargestellt wird ihre Geschichte mit Animationen des Schweizer Künstlers und Illustrators Hannes Binder und einer Reise durch die Schweiz.Der Film thematisiert auch ihren Weg zurück in die Normalität - ein Leben, das für sie immer von ihrer Vergangenheit geprägt sein wird.
«Die Zeit heilt die Schmerzen der Vergangenheit nur, wenn wir uns mit dem Schmerz auseinandersetzen und lernen, damit zu leben», sagt Anna.«Ich dachte, der Horror sei vorbei, als ich mich aus dem Frauenhandel befreite. Aber das Schlimmste waren nicht die Vergewaltigungen. Das Schlimmste kam erst danach.»
Anna, Sie wurden als Jugendliche aus Tschechien in die Schweiz gelockt und während Monaten zur Prostitution gezwungen. Doch Sie konnten sich aus dem Frauenhandel befreien.
Wie geht es Ihnen heute?
Das Leben ist für mich ein ständiges Lernen und eine tägliche Auseinandersetzung, der man sich stellen muss. Ich bin einfach froh, dass ich heute eine grosse Lebenslust verspüre – dass ich auch an Tagen, an denen ich denke «ich kann nicht mehr, warum mach ich das eigentlich?», etwa nach draussen gehen kann und merke, das Leben ist lebenswert.
Ich studiere Soziale Arbeit in Basel, arbeite in einem Heim für autistische Menschen, bin seit drei Jahren verheiratet und habe eine Tochter. Das klingt fast wie ein Märchen-Ende zum Schluss. Aber so ist es nicht. Die Zeit heilt die Schmerzen der Vergangenheit nur, wenn wir uns mit dem Schmerz auseinandersetzen und lernen, damit zu leben. Heute führe ich mein Leben wahrscheinlich wie jede andere Frau in meinem Alter, einfach mit einer etwas anderen Vergangenheit.
Die Geschichte von Anna
Der Film «Anna in Switzerland» erzählt in zwei Reisen die Vergangenheit und Gegenwart dieser jungen Frau. Die Reise, die Anna damals in die Schweiz und in den Frauenhandel führte. Der Film thematisiert auch ihren Weg zurück in die Normalität – ein Leben, das für immer von ihrer Vergangenheit geprägt sein wird. Dargestellt wird ihre Geschichte mit Animationen des Schweizer Künstlers und Illustrators Hannes Binder und einer Reise durch die Schweiz. Der Dokumentarfilm läuft ab dem 30. Oktober in ausgewählten Kinos in Basel, Bern, Zürich, Luzern und St. Gallen. (ngl)
Was für eine Vergangenheit? Ich träumte schon in jungen Jahren davon, Sozialarbeiterin zu werden. Damals tauchte ein Schweizer Geschäftsmann als Gast im Hotel auf, wo ich an der Rezeption ausgeholfen hatte. Er fragte mich, ob ich Lust hätte, für ihn zu dolmetschen. Er erzählte mir von der Schweiz, und dass ich dort eine Ausbildung machen könne, dass er mir dabei helfen würde. Ich verliebte mich und wir wurden ein Paar. Zusammen gingen wir Richtung Schweiz. Bereits vor der Grenze habe ich aber gespürt, dass etwas nicht stimmt. Er wollte unbedingt meinen Pass bei sich haben. Noch in derselben Nacht wurde ich das erste Mal verkauft. So hat es angefangen – mit Gewalt und Drohungen. Von da an wurde ich in der Schweiz herumgefahren und Männern angeboten. Der, der am meisten Geld bot, hat mich gekriegt. Oder ich wurde in ein Zimmer eingesperrt und die Freier kamen zu mir. Mein damaliger «Freund» verkaufte mich wie ein Stück Fleisch weiter.
Wie konnten Sie fliehen? Nach ein paar Monaten war ich zerstört. Ich habe nicht mehr gegessen, habe gestottert, war ganz in mich versunken, mit einem leeren Blick. Ich sah so krank aus, dass ich für die Täter «unbrauchbar» wurde. Deshalb sagten sie mir, ich solle das Geld anderswie anschaffen. Wenn ich das zustandebringe, dann würden sie mich nicht mehr zur Prostitution zwingen. Also liessen sie mich nach draussen gehen. In einem Restaurant, wo ich nach Arbeit gefragt habe, habe ich eine Tschechin kennengelernt. Sie hat mir geholfen, da rauszukommen. Sie hat mir einen Platz zum Schlafen organisiert und eine kleine, nicht offizielle Arbeit im Service.
Was hat Ihnen die nötige Kraft gegeben, danach ein neues Leben aufzubauen? Ich habe mir immer wieder gesagt, ich bleibe nicht auf den Knien. Diese Macht hat niemand über mich. Ich stehe wieder auf. Es war wie ein innerer Antrieb. Entweder man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Für mich war damals klar: Entweder ich bringe mich um oder ich stehe auf. Etwas dazwischen gab es nicht.
Was war das Schlimmste, was Sie in Ihrer Vergangenheit erlebt haben? Ich dachte, der Horror sei vorbei, als ich mich aus dem Frauenhandel befreit hatte. Aber das Schlimmste waren nicht die Vergewaltigungen. Das Schlimmste kam erst danach.
Ich war zwar frei, aber dann habe ich durch verschiedene Begegnungen mit anderen Menschen gemerkt, dass mir der Begriff «Opfer» wie ein Stempel auf die Stirn gedrückt wurde.
Ich habe gespürt, dass die Menschen selber eine riesige Angst vor dem hatten, was mir passiert ist. Diese Angst war so gross, dass sie sich nicht damit auseinandersetzen oder identifizieren wollten.
Das führte dazu, dass ich ausgegrenzt und schubladisiert wurde. Es gibt heute sogar Studien, die zeigen, dass Jugendliche auf den Schulhausplätzen «du Opfer» als Schimpfwort brauchen. Diese Stigmatisierung ist wie eine weitere, aber legale Gewalttat.
Was wünschen Sie sich diesbezüglich von der Gesellschaft? Das Schönste ist, dass es auch Menschen gibt, die mir auf Augenhöhe begegnen. Die nicht nur auf meine Vergangenheit blicken und mich nicht nur als das Opfer des Frauenhandels definieren, sondern sehen, dass ich eine Persönlichkeit habe und viel mehr bin als nur ein Opfer.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass der Opferbegriff in der Öffentlichkeit breiter diskutiert und neu überdacht wird – auch von juristischer Seite. Es soll kein Nachteil in der Gesellschaft daraus entstehen, ein Opfer zu sein.
Denn Frauen, denen Ähnliches wie mir passiert ist, sind viel mehr als nur Opfer. Sie haben Träume, Wünsche, Ziele.