«Einfach nur schrecklich» – In Spanien wurden in den letzten 30 Tagen mehr Frauen getötet als in den ersten vier Monaten des Jahres Mit dem Ende der Mobilitätsbeschränkungen steigt die Zahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen. Es gibt zu wenig Anzeigen aus dem Umkreis der Opfer. Auch Kinder sind den Tätern oft hilflos ausgeliefert.
Ute Müller, Madrid 18.06.2021, 14.19 Uhr
Für Victoria Rosell, die Regierungsbeauftragte für das Thema Gewalt gegen Frauen, waren die letzten Wochen «einfach nur schrecklich». Seit der Ausnahmezustand in Spanien vor einem Monat geendet hat, sind mindestens zwölf Frauen von ihren Ehemännern oder Partnern ermordet worden. Laut dem Ministerium für Gleichstellung sind das mehr als in den ersten vier Monaten des Jahres 2021 zusammen.
«Mit der Aufhebung der Mobilitätsbeschränkungen ist die Zahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen drastisch gestiegen», verkündete Rosell vor wenigen Tagen im spanischen Fernsehen. Den drastischen Anstieg der Gewalt gegen Frauen erklärt sie sich damit, dass die Aggressoren während des Alarmzustands die Kontrolle über ihre Opfer hatten. «Sie mussten sie nicht ermorden», so Rosell. Dabei klagt die Regierungsbeauftragte auch eine Kultur des Machismus in der spanischen Gesellschaft an: «Unter der Covid-19-Pandemie versteckte sich eine andere Pandemie, nämlich die des Machismus, der jetzt wieder zutage tritt.»
Davon bleibt keine Altersgruppe verschont. Das zeigt der Fall einer erst 17-jährigen Sevillanerin, die von ihrem Freund ermordet und zerstückelt wurde. Sie hinterlässt einen vier Monate alten Säugling. Das vorläufig letzte Opfer des vergangenen Monats war eine 81-Jährige in Madrid, deren drei Jahre älterer Ehemann sie mit einem Hammer erschlug. «Ich habe es getan und würde es wieder tun», erklärte er seelenruhig den Polizeibeamten, als diese am Tatort eintrafen.
Seit dem Jahr 2003 erfasst Spanien die Gewalt in der Partnerschaft in einer eigenen Statistik. Demnach wurden von 2003 bis zum Juni dieses Jahres 1098 Frauen von ihrem Ehemann oder Partner getötet, das sind mehr Opfer, als die Anschläge der inzwischen aufgelösten baskischen Terrororganisation ETA forderten.
1098 Frauen wurden seit 2003 in Spanien von Partnern oder Verwandten getötet Anzahl Femizide in Spanien erwachsene Frauen Minderjährige 0 20 40 60 80 2021* 2020 2019 2018 2017 2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 Jahr 20 2 45 3 55 3 51 7 50 8 49 1 60 5 55 4 54 6 51 0 62 0 73 0 57 0 76 0 71 0 69 0 57 0 72 0 71 0 * Für das Jahr 2021 liegen Zahlen bis zum 1. Juni 2021 vor. Quelle: Ministerio de IgualdadNZZ / jum. Doch nicht nur die vielen Frauenmorde lassen aufhorchen. Immer häufiger benutzen die Täter die gemeinsamen Kinder, um ihren Partnerinnen Leid zuzufügen. Oft, wenn diese es wagten, sich von ihnen zu trennen. Seit 2013 kamen so bereits 39 Kinder ums Leben. In diesen Tagen versetzte ein Fall auf der Kanareninsel Teneriffa Spanien in kollektiven Schock.
Dort soll ein Vater seine Töchter im Alter von sechs und einem Jahr entführt und umgebracht haben. Der Leichnam des älteren Mädchens wurde inzwischen in einer Sporttasche auf dem Meeresgrund gefunden. Der Untersuchungsrichter geht davon aus, dass der 37-jährige Vater auch die kleine Schwester ins Meer geworfen hat. Noch fehlt von dem Kind, aber auch vom mutmasslichen Täter selbst jede Spur. Zuvor hatte er seiner Ex-Partnerin telefonisch mitgeteilt, dass sie ihre Kinder nie wieder sehen werde. Er habe ihr damit den grösstmöglichen Schmerz zufügen wollen, heisst es in einem Bericht des Untersuchungsrichters.
Nur jede fünfte Misshandlung wird angezeigt Nach dem Fall in Teneriffa kam es in ganz Spanien zu mehreren Protestkundgebungen. «SOS – Der Machismo tötet wieder», stand auf einem der Transparente bei einer Kundgebung vergangene Woche an der Madrider Puerta del Sol. Angesichts der dramatischen Häufung der Fälle haben das Innenministerium und das Ministerium für Gleichstellung nun eine Task-Force gegründet, um Frauen und Kinder effektiver zu schützen.
Zurzeit betreut das Innenministerium bereits 63 000 Frauen und ihre Kinder, die Schutz vor häuslicher Gewalt suchen. Laut der jüngsten Umfrage des Ministeriums für Gleichstellung haben in Spanien 14,2 Prozent der Frauen im Leben einmal physische oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft erfahren. Die Frauen sind oft auf sich allein gestellt, häusliche Gewalt wird in der Regel totgeschwiegen. Nur jede fünfte Aggression wird gemeldet. Verschwindend gering ist der Prozentsatz der Anzeigen, die aus dem Umfeld der Opfer kommen.
Genau an diesem Punkt will Victoria Rosell ansetzen. Man arbeite jetzt an einem Protokoll, das es der Polizei ermögliche, aufgrund von Hinweisen aus dem Kreis von Freunden und Nachbarn einzuschreiten und Untersuchungen einzuleiten, ohne dass eine Anzeige von der bedrohten Person selbst vorliegen müsse, so Rosell.
Auch Spaniens bekannte Frauenrechtlerin Ana Bella Estévez wird nicht müde, zu unterstreichen, wie wichtig es ist, dass auch das Umfeld reagiert. «Es gibt viele Signale für Misshandlungen, nicht nur blaue Flecken, etwa wenn der Mann stets an der Stelle der Frau antwortet oder im Wartezimmer beim Arzt sagt, wohin sie sich setzen solle», so Estévez, eine ehemalige Jurastudentin, die auf Druck des Gatten ihr Studium seinerzeit abbrach. Die heute 48-jährige Andalusierin wurde jahrelang von ihrem Mann geschlagen, bevor sie sich mit ihren drei Kindern aus eigener Kraft befreite. Ihre Freunde hatten nichts bemerkt. Heute hat sie eine eigene Stiftung, die laut eigenen Angaben bereits 25 000 Frauen half, ihren prügelnden Partnern zu entkommen, und so womöglich verhinderte, dass auch sie Teil dieser traurigen Statistik Spaniens werden.