Der Weg zur Wiederaufnahme Wenn ein Gericht ein Urteil fällt, steht es. Beinahe unumstößlich. Für eine Wiederaufnahme muss es wirklich schwerwiegende Gründe geben. Welche, erklärt Hans Kudlich, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht an der Universität Erlangen im Interview mit BR Franken.
Stand: 01.04.2014
Herr Kudlich, Wiederaufnahmeverfahren gibt es relativ selten. Warum sind die Hürden für eine Wiederaufnahme so hoch?
Hans Kudlich: "In jedem Gerichtsverfahren gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen materieller Richtigkeit des Ergebnisses und dem Rechtsfrieden, der irgendwann eintreten soll. Für den Normalfall hat der Gesetzgeber das so geregelt, dass nach einer bestimmten Anzahl von Instanzen, in denen die Sache an sich sorgfältig hätte geprüft werden sollen, Rechtskraft eintritt und sich die Gerichte nicht mehr mit dem Fall befassen. Ein erfolgreicher Wiederaufnahmeantrag durchbricht diese Rechtskraft und ist schon von daher etwas Außergewöhnliches. Es kommt hinzu, dass die Beweissituation lange Zeit nach dem Ausgangsverfahren regelmäßig ja auch nicht besser wird. Deshalb genügt für eine Wiederaufnahme nicht, dass ein Urteil in der Sache falsch sein könnte, sondern der Gesetzgeber hat nur bestimmte, abschließend anerkannte Wiederaufnahmegründe anerkannt."
Unter welchen Umständen kann es überhaupt zu einem Wiederaufnahmeverfahren kommen und welche waren es im Fall Kulac?
Ulvi Kulac bei der ersten Verhandlung Hans Kudlich: "Die Strafprozessordnung benennt einige wenige Wiederaufnahmegründe, so insbesondere den Fall, dass das rechtskräftige Urteil auf falschen Urkunden oder Falschaussagen von Zeugen beruht oder - als wichtigsten Fall - dass neue Beweismittel vorgebracht werden können. Im Fall Kulac stützt das Gericht die Wiederaufnahme zum einen auf die vorsätzliche falsche Aussage eines Zeugen. Zum anderen geht es davon aus, dass die Polizei bei der Vernehmung von Herrn Kulac bereits eine Tathergangshypothese, also eine feste Vorstellung vom Tatverlauf hatte, mit dem sie ihn massiv konfrontiert hat. Da der Sachverständige, der die Glaubhaftigkeit des Geständnisses von Herrn Kulac beurteilen sollte, das nicht wusste, würde es sich insoweit um eine neue Tatsache handeln."
Bedeutet das Wiederaufnahmefahren, dass Ulvi Kulac unschuldig ist?
Das Landgericht in Bayreuth Hans Kudlich: "Formal bedeutet es zunächst einmal nur, dass es im ersten Verfahren einen Fehler gegeben hat, der zur Wiederaufnahme berechtigt und dass der Fall neu geprüft werden muss. Insoweit könnte man sagen: Für Herrn Kulac gilt jetzt erst einmal wieder die Unschuldsvermutung wie für jeden anderen Angeklagten, nicht mehr und nicht weniger. Allerdings wird wohl schon bei der Entscheidung darüber, ob überhaupt eine Wiederaufnahme angeordnet wird, bis zu einem gewissen Grad darauf geschielt, ob sich zum Beispiel die neuen Tatsachen überhaupt auswirken können. Insoweit würde ich mal 'kaffeesatzlesen', dass aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden seine Unschuld wahrscheinlicher ist als die vieler anderer Angeklagter, gegen die es zu einer normalen Hauptverhandlung kommt. Aber das Gesetz sieht eben vor, dass grundsätzlich nach der Wiederaufnahme neu verhandelt werden muss."
Angenommen Ulvi Kulac wird in der neuen Hauptverhandlung freigesprochen. Würde er dann auch aus der Psychiatrie entlassen?
Die Psychiatrie in Bayreuth Hans Kudlich: "Nach meinem Kenntnisstand ist die gegenwärtige Unterbringung nicht mit dem Fall Peggy, sondern mit Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern begründet. Insoweit bliebe die Unterbringung von einem Freispruch erst einmal unberührt. Freilich: Bei der Unterbringung in der Psychiatrie geht es immer auch um eine Gefährlichkeitsprognose und um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Beides könnte sich in der Gesamtschau anders darstellen, wenn kein Verdacht einer schweren Gewalttat in anderer Sache mehr besteht. Aber dazu kann man letztlich ohne genaue Aktenkenntnis nichts Belastbares sagen."
Die Polizei ermittelt seit Mitte 2012 wieder im Fall Peggy. Die Ermittler hatten immer betont, dass sie "nur" die Begleitumstände des Mordes an Peggy Knobloch untersuchen, da es ein rechtskräftiges Urteil gibt. Falls Ulvi Kulac freigesprochen wird, werden dann wieder Mordermittlungen eingeleitet?
Hans Kudlich: "Wenn auch nach dem Verfahren ein Mordverdacht - nur dann eben nicht mehr gegen Herrn Kulac - im Raume steht, liegt es nahe, dass wieder Mordermittlungen eingeleitet beziehungsweise intensiviert werden. Es besteht dann immerhin der Verdacht eines schweren Verbrechens, das auch noch nicht verjährt wäre. Und offenbar gibt es ja auch schon verschiedene Anhaltspunkte. Nur das muss klargestellt werden: Im Verfahren gegen Herrn Kulac wird es nicht unmittelbar darum gehen, ob es einen anderen Täter gegeben hat beziehungsweise wer das war. Oder anders ausgedrückt: Ein Freispruch im neuen Verfahren würde natürlich nicht voraussetzen, dass zugleich schon ein anderer Täter präsentiert werden kann."
Herr Kudlich, vielen Dank für das Interview.
Zur Person Hans Kudlich, Jahrgang 1970, ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Erlangen. Nach seinem Jurastudium in Augsburg und Würzburg folgten das Referendariat mit zweitem Staatsexamen und die Promotion in Würzburg sowie die Habilitation in München. Anschließend übernahm er den Lehrstuhl an der Bucerius Law School in Hamburg, zum Wintersemester 2004/2005 wurde er an die Universität Erlangen berufen. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen gegenwärtig unter anderem im aktuellen Straf- und Strafprozessrecht sowie im Wirtschaftsstrafrecht.