Zweiter Prozesstag gegen den "Waldläufer von Oppenau" dreht sich um Polizeiarbeit
Offenburg Am zweiten Prozesstag gegen den "Waldläufer von Oppenau" sagten die Beamten aus, die Yves R. in einer Hütte kontrollierten, ehe er sie entwaffnete. Wie konnte die Lage eskalieren?
Von Ulrike Bäuerlein
Im Internet ergoss sich Spott und Häme über die vier Polizeibeamten, die sich am 12. Juli von einem einzelnen Mann in einer Gartenhütte in Oppenau entwaffnen ließen. Vor dem Landgericht Offenburg sagten am Freitag unter anderem die beteiligen Beamten beim zweiten Prozesstag gegen Yves R., den "Waldläufer" von Oppenau, aus, der wegen Geiselnahme und schwerer Körperverletzung angeklagt ist.
Dabei wurde klar: Die drei Streifenpolizisten und die Polizeipraktikantin, die an diesem Julisonntag bei einem vermeintlich harmlosen Einsatz und einer zunächst entspannten Personenüberprüfung plötzlich mit einer echt aussehenden Schreckschusswaffe bedroht wurden, fürchteten um ihr Leben.
Doch auch nach ihren Schilderungen steht die Frage unbeantwortet im Raum, wie die Situation in der Hütte kippen konnte, welchen Anteil speziell einer der Beamten daran hatte – und ob die Eskalation durch ein sensibleres Vorgehen vermieden hätte werden können.
Das Auftreten als Polizist
Zumindest den Einsatzleiter quält diese Frage bis heute, wie der 36-jährige Polizeikommissar vom Revier Achern dem Gericht sagte. Nicht nur der ganze "Scheiß" im Internet sei extrem belastend für ihn und seine Familie gewesen, sondern er hinterfrage seitdem auch sein Auftreten als Polizist.
Fest steht, dass der Polizist an diesem Sonntag im Streifendienst in Begleitung einer Polizeipraktikantin zur Hütte gerufen wurde. Dort hatten ein Nachbar und der Besitzer zuvor den damals 31-jährigen Yves R. aus Oppenau angetroffen, einen polizeibekannten wohnsitzlosen Sonderling, Waffennarr und Outdoor-Fan. Er plante eine große Wanderung, schaffte dafür Ausrüstung in die ungenutzte Gartenhütte – inklusive diverser Messer, einem Beil, Pfeil und Bogen, Lanze, Schreckschusswaffen und Munition.
"Die Personalienfeststellung lief ganz normal ab. Er war ruhig, wir haben uns unterhalten, respektvoll geredet. Es war völlig entspannt", sagt der Einsatzleiter. Er habe "einen guten Draht" zu Yves R. gefunden und die Situation trotz der herumliegenden Waffen nicht als bedrohlich empfunden. Fürsorglich fragt er sogar den Hüttenbesitzer, ob Yves R. noch ein paar Tage bleiben könne. Eine Festnahme stand nicht im Raum, Yves R. drohte maximal Ärger wegen des Waffenbesitzes und des Eindringens in die Hütte.
Doch als eine weitere Streife eintrifft, übernimmt ein anderer Polizist das Gespräch. Sofort kippt die Stimmung. Dass Yves R. gefordert haben soll, stattdessen wieder mit ihm zu reden, registriert der Einsatzleiter nicht. "Da hat die Chemie nicht gestimmt", sagt er vor Gericht. Beide waren einander unsympathisch.
Situation anders eingeschätzt
Vor allem an diesem Punkt hakt die Verteidigung intensiv nach. Ob das professionell sei und ob man als Polizist nicht zur Deeskalation beitragen solle, fragt R.'s Verteidigerin Melanie Mast den betreffenden Beamten. Dieser räumt ein, dass er die Situation in der Hütte angesichts der Waffen als nicht so entspannt wie der Kollege empfunden habe.
"Wir hatten Differenzen, der Herr R. hat mich wohl als seinen Feind gesehen, aber es war sachlich und ruhig", sagt der Beamte aus. Bis zu dem Moment, als er Yves R. durchsuchen will – "ein normales Vorgehen bei Waffenbesitz" – und Yves R. eine Schreckschusswaffe auf den Beamten richtet. "Mir war klar, dass er schießt, wenn ich die Waffe nicht ablege", sagt der Beamte. Er fürchtet, zu sterben. "Das habe ich sehr ernst genommen."
Der Einsatzleiter, der draußen telefoniert und mit der Praktikantin Ausrüstung und Rucksack sichtet, bekommt zunächst nichts mit. Das nächste, was er sieht, ist das panikerfüllte Gesicht der Kollegin – und Yves R., der den Kollegen bedroht und alle auffordert, die Waffen abzulegen. "Dann kommen wir alle heil nach Hause", soll er gesagt haben. "Ich wollte nicht verantwortlich sein, dass der Kollege sein Leben verliert", sagt der Einsatzleiter, der völlig überrascht von der Entwicklung ist. In dem Moment, als er die Waffe ablegte, habe er mit seinem Leben abgeschlossen.
Fluchtartig verlassen die vier Polizisten das Gelände, sprinten zu ihren Streifenwagen und rufen Verstärkung. Die sechstägige Jagd in Oppenau beginnt.
Weitere Termine: Der Prozess geht am 9. Februar weiter. Ein Urteil könnte am 19. Februar fallen.
Vor dem Offenburger Landgericht ist der Prozess gegen den 32-jährigen Yves R. aus Oppenau fortgesetzt worden. Zeugen aus seinem privaten Umfeld beschrieben ihn als gutmütig und hilfsbereit.
Yves R. war im Sommer 2020 bei Oppenau (Ortenaukreis) in einer fremden Waldhütte entdeckt worden, hatte dort mehrere Polizisten entwaffnet und sich dann tagelang im Wald versteckt. Angeklagt ist der 32-Jährige wegen Geiselnahme, gefährlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz.
Freunde beschreiben ihn als gutmütig
Freunde und Verwandte beschrieben ihn am vierten Prozesstag als freundlich und gutmütig. Nachdem er schon einmal eine Haftstrafe verbüßt hatte, habe er nie wieder ins Gefängnis gewollt. Die Zeugen berichteten außerdem, dass Yves R. zuletzt zurückgezogen im Wald gelebt habe. Er sei dort zufrieden gewesen, so ihre Einschätzung. Alle hatten nach eigenen Angaben bis zu den Ereignissen im Sommer regelmäßig Kontakt zu ihm.
Urteil könnte am Freitag fallen
Ausgesagt hat am Montag auch die Tante des Angeklagten, bei der R. zwischenzeitlich wohnte. Sie beschrieb ihn als intelligent und hilfsbereit. Seinen Plan, im Wald zu leben und eine lange Wanderung zu unternehmen, sah sie als Wegsuche. Im Prozess steht am Dienstag das psychiatrische Gutachten an. Am Freitag, 19.02., könnte ein Urteil fallen.
Yves R. aus Oppenau wegen Geiselnahme zu drei Jahren Haft verurteilt
Bericht und VIDEO:
Vor dem Landgericht Offenburg ist das Urteil gegen den 32-jährigen Yves R. aus Oppenau (Ortenaukreis) gefallen. Er war im Sommer 2020 im Schwarzwald tagelang von einem Großaufgebot der Polizei gesucht worden.
Drei Jahre Haft wegen Geiselnahme in einem minderschweren Fall, gefährlicher Körperverletzung und unerlaubten Waffenbesitzes: So lautet das Urteil gegen Yves R. Nach anderthalb Monaten ist mit der Urteilsverkündung am Nachmittag der Prozess gegen den 32-Jährigen vor dem Landgericht in Offenburg zu Ende gegangen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidigung hat angekündigt, Revision einzulegen. Der Richter Wolfgang Kronthaler sprach in seiner Urteilsbegründung von einem Mann, der unter einer Persönlichkeitsstörung leide und schon oft straffällig geworden sei. Yves R. nahm das Urteil ohne sichtliche Regung entgegen, an seiner Mimik und Gestik änderte sich nichts.
Die ausführliche Urteilsbegründung
Der Richter erklärte, dass sie abwägen mussten: Für Geiselnahme sind laut Strafgesetzbuch mindestens fünf Jahre Haft vorgesehen. In diesem Fall habe es sich aber nur um wenige Sekunden gehandelt. "Das war nicht vergleichbar mit dem Entschluss, eine Bank auszurauben, dort eine Geisel zu nehmen und sie stundenlang zu halten", so der Richter.
Strafmildernde Umstände
Es ist laut Kronthaler von einem spontanen Tatentschluss auszugehen. "Sie haben im Wesentlichen zur Aufklärung beigetragen und ihr Bedauern geäußert", sagte er zu Yves R. Außerdem käme er nun zum ersten Mal in Erwachsenenhaft. Die mediale Berichterstattung werde ihn sein Leben lang begleiten.
Was sich nachteilig auf das Strafmaß auswirkte
Zu Lasten von Yves R. geht laut Richter Folgendes: "Sie sind schon sehr lange vorbestraft und waren wegen eines einschlägigen Waffendeliktes auf Bewährung. Sie haben neben der Geiselnahme auch weitere Straftaten begangen und wiesen dabei ein hohes Gefahrenpotenzial auf." Zudem habe der 32-Jährige einen Polizeibeamten mit der Axt verletzt. Auch die Aussage der Polizisten vor Gericht wirkt sich offensichtlich nachteilig aus. "Die Polizisten sagten einstimmig aus, dass Sie zu Beginn der Tat, bei der Entwaffnung und der Geiselnahme sehr abgebrüht und strukturiert waren. Sie wussten genau, was sie da tun." Die Polizisten hingegen, so der Richter, hätten sich nicht fehlerhaft verhalten. Auch die Tatsache, dass Yves R. trotz mehrfacher Aufforderung nicht die Waffen weggelegt, sich nicht ergeben habe und sich nicht durchsuchen lassen wollte, wird ihm ebenfalls zur Last gelegt. Dazu kommt, dass er nicht gestanden habe, den Beamten mit der Axt vorsätzlich verletzt zu haben. Den Einsatz der Elektroschockpistole, des Tasers, berücksichtigte der Richter ebenfalls. Das habe Yves R. in eine besondere Situation gebracht. Aber: "Mehrere Beamten haben gesehen, dass Sie gezielt und mit voller Kraft in Richtung des Beamten geschlagen haben." Dazu gebe es auch eine Video-Aufnahme. Außerdem habe Yves R. nicht gestanden, einen der Polizeibeamten mit einer Waffe bedroht und als Geisel benutzt zu haben, um die anderen Polizisten vor der Tür zu entwaffnen.
Forderungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung weit auseinander
Die Staatsanwaltschaft hatte für den Angeklagten eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten Haft gefordert, die Verteidiger anderthalb Jahre auf Bewährung. Zu Prozessbeginn am 15. Januar hatten die Verteidiger eine Erklärung verlesen, in der Yves R. beschreibt, wie er am 12. Juli 2020 in einer Hütte von Polizisten kontrolliert worden war, wie er sie in Angst vor einer Festnahme mit seiner Schreckschusswaffe bedroht und ihnen die Dienstwaffen abgenommen hatte.
Fünf Tage Fahndung bis zur Festnahme
Als Geiselnahme in minderschwerem Fall bewertete das die Staatsanwaltschaft. Die Verteidiger gingen von Widerstand und schwerem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte aus. Nach ihrer Darstellung wurde der Angeklagte in die Enge getrieben. Provokationen eines Polizisten hätten zur Eskalation geführt. Erst nach fünftägiger Fahndung durch ein Polizeigroßaufgebot war Yves R. mit den vier Dienstwaffen gefasst worden. Bei der Festnahme verletzte er einen Polizisten mit einer Axt am Fuß. Laut einem psychiatrischen Gutachten war er in dieser Situation infolge von Hunger Durst, Schlafmangel und Schmerz nur vermindert schuldfähig. Es attestiert dem einschlägig vorbestraften Mann zudem eine multiple Persönlichkeitsstörung.
Was ist im Juli 2020 passiert? Ein Rückblick in Kürze
In der Kleinstadt Oppenau im Ortenaukreis herrschte eine knappe Woche lang Ausnahmezustand. Der Angeklagte Yves R. soll am Sonntag, 12. Juli 2020, bei einer Kontrolle an seiner Gartenhütte eine echt aussehende Schreckschusswaffe gezogen und einen Polizisten als Geisel genommen haben. Anschließend soll er vier Polizisten entwaffnet und sich im Wald versteckt haben. Mit einem Großaufgebot von insgesamt 2.500 Beamten und mehreren Hubschraubern hat die Polizei in den Wäldern rund um Oppenau nach dem Mann gesucht. Am sechsten Tag wurde er festgenommen und sitzt seither in Untersuchungshaft. Bei seiner Festnahme soll er einen Polizisten mit einem Beil am Bein verletzt haben.