Spektakulärer Mord in Gießen: Der Tote mit dem Regenschirm im Rachen vonRedaktion
Vor fast 50 Jahren wird Friedhelm J. tot in einer Toilette am Oswaldsgarten in Gießen gefunden. Die Brutalität der Tat wirft bis heute Fragen nach dem Motiv des Mörders auf.
Ein Mittwochnachmittag im Jahr 1971: Es ist kurz nach 17 Uhr, als ein anonymer Anruf die Gießener Kriminalpolizei erreicht. Der Mann am Telefon berichtet, auf der öffentlichen Toilettenanlage am Oswaldsgarten liege ein blutüberströmter Mann. Als die Beamten kurze Zeit später eintreffen, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens. In einer Kabine der Herrentoilette liegt die Leiche eines Mannes. Hose und Unterwäsche sind bis an die Knöchel heruntergezogen. Überall schwimmt Blut. An dem Opfer finden sich zahlreiche Stichverletzungen. In seinem Hals steckt ein Klappmesser mit sieben Zentimeter langer Klinge. Dem Opfer wurde zudem sein eigener Regenschirm in den Rachen gerammt. Zur Verwunderung der Beamten war die Tür zur Kabine von innen verschlossen.
Gießen: Mit dem Gürtel stranguliert Die Identität des Mannes kann die Polizei schnell herausfinden: Es handelt sich um den 30 Jahre alten Friedhelm J. Der Mann war körperlich behindert und lebte bei seiner Familie in der östlichen Wetterau. Regelmäßig fuhr er nach Gießen, wo er in einer Werkstatt für geistig Behinderte arbeitete. Sein Leben endet brutal; in der Akte sind mehrere Todesarten vermerkt: Laut Gerichtsmedizin wurde Friedhelm J. erwürgt und erstochen. Demnach habe der Täter sein Opfer zunächst mit einem Gürtel und den Händen stranguliert. Danach muss er ihn mehrfach mit voller Wucht das Messer in den Hals gestochen und anschließend den Regenschirm in den Rachen gerammt haben.
Die Kripo beginnt sofort mit ihren Ermittlungen. Kriminalhauptkommissar Helmut Happel bildet eine Sonderkommission. Schnell werden mögliche Motive ausgemacht: Demnach könnte Friedhelm J. Opfer eines Raubmordes geworden sein. Dafür spricht, dass in der Toilettenschüssel die leere Brieftasche des Opfers gefunden wurde. Aber warum ließ der Täter die Armbanduhr seines Opfers zurück? Dies spricht gegen einen Raub. Außerdem wirkte Friedhelm J. nicht wie ein wohlhabender Mensch. Gegen einen Raubmord spricht auch die Brutalität der Tat. Hat der Täter den Mord also nur als Raub inszeniert, um die Ermittler auf eine falsche Fährte zu locken?
Nicht zuletzt wegen des Tatortes zieht die Polizei auch einen Sexual-Mord in Betracht. Das Toilettenhäusschen ist damals besonders als Treffpunkt für Homosexuelle bekannt, und den Ermittlern liegen Hinweise vor, dass Friedhelm J. Männer liebte.
Anfang der 70er Jahre ist das Land noch stark geprägt vom Paragraphen 175, dem sogenannten "Schwulen-Paragraphen", der seit der Kaiserzeit besteht. Er stellt homosexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe. Bis er 1994 vollständig abgeschafft wird, werden 64 000 Männer wegen "Unzuchts" zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt. Zwar kommt es 1969 zu einer Reform des Sexualstrafrechts, wonach Männern über 21 Jahren Straffreiheit gewährt wird. An der Situation der Homosexuellen ändert dies jedoch wenig. Die Männer halten ihre Sexualität in der Öffentlichkeit versteckt, treffen sich an geheimen Orten. Ein Zeitzeuge berichtet, nach dem Mord an Friedhelm J. habe in der Szene Angst geherrscht. Die Polizei, erzählt er, werde bei einem "Schwulenmörder" sowieso nicht ermitteln, hieß es damals.
Gießen: Raub oder Mord im Schwulen-Milieu? Eine unberechtigte Sorge: Denn die Ermittler brachten eine aufwendige, öffentliche Fahndung nach dem Mörder in Gang. Neben Ermittlungen in der Gießener Homosexuellen-Szene veröffentlicht die Polizei Bilder des Ermordeten sowie der Tatwerkzeuge. So erhoffen sich die Ermittler Hinweise der Öffentlichkeit.
Und tatsächlich: Mehrere Zeugen sagen aus, Friedhelm J. am fraglichen Abend mit einer Frau am Bahnhof gesehen zu haben. Die Kripo geht diesem Hinweis nach und findet sie. Die Frau gibt an, am Dienstagabend mit dem späteren Opfer zusammen gewesen zu sein. Demnach soll sie am Bahnhof von Friedhelm J. angesprochen worden sein. Beide hätten sich dann von 20 bis 1 Uhr in der Gaststätte "Oberbayern" aufgehalten. Gegen 1.10 Uhr habe sie das Lokal verlassen und sich auf den Weg zur "Corso"-Bar gemacht, die sich damals neben der Toilettenanlage am Oswaldsgarten befand. Zeugen bestätigen, die Frau ohne Begleitung in der Bar gesehen zu haben.
Zwei Stunden später, gegen 3 Uhr, rauchen drei Musiker einer Band nach ihrem Auftritt eine Zigarette vor der Bar. Sie erinnern sich später gegenüber der Polizei daran, dort einen Mann gesehen zu haben, auf den die Beschreibung von Friedhelm J. zutrifft. Sie sind offenbar die letzten Menschen, die den Wetterauer lebend sehen.
Wenig später meldet sich eine weitere Zeugin. Sie sagt aus das Opfer am späten Dienstagabend in Begleitung eines anderen Mannes gesehen zu haben. Die beiden seien gegen 22.45 Uhr mit zwei schwarzen Aktentaschen in Richtung Berliner Platz unterwegs gewesen. Die Kripo nimmt diesen Hinweis ernst, denn der Frau war der wippende Gang des späteren Opfers aufgefallen, den Friedhelm J. wegen seiner Bewegungsstörung hatte.
Die Ermittler suchen nun nach einem Mann, der sich zur Tatzeit im Bereich der Corso-Bar aufhielt und Kontakt zu Friedhelm J. hatte. Dabei stoßen sie auf einen ebenfalls 30-Jährgien, der gegen 3 Uhr aus dem Lokal geworfen worden wurde - zur gleichen Zeit, zu der Friedhelm J. vor der Bar gestanden haben soll. Im Zuge der Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Verdächtige homosexuell ist und bereits eine Gefängnisstrafe wegen Totschlags abgesessen hatte. Und auch ein weiteres Detail passt: Er hatte seinen damaligen Lebensgefährten mit einem Gürtel erdrosselt.
Während der Ermittlungen unternimmt der Tatverdächtige einen Suizidversuch. Die Polizei durchsucht seine Wohnung und stellt die Kleidung sicher, die er am Tattag getragen haben soll. Doch die damaligen Untersuchungsmethoden reichen nicht aus, um verwertbare Spuren zu sichern. Da dem 30-Jährigen kein näherer Kontakt zu Friedhelm J. nachgewiesen werden kann, muss die Polizei ihn gehen lassen. Alle weiteren Spuren verlaufen im Sand, die Akte wird beiseite gelegt.
Gießen: Neue Untersuchung im Jahr 2010 Im Jahr 2010 jedoch öffnet eine junge Kriminalbeamtin die Akte erneut. Silke Bauch ist zwei Jahre zuvor aus Bad Homburg ins Polizeipräsidium Mittelhessen gekommen und widmet sich den alten, unaufgeklärten Fallen. Sie lässt die damals sichergestellten Asservate mithilfe moderner Methoden auf DNA-Spuren testen. Die Rechtsmedizin untersucht die Tatwerkzeuge, die Brille und die Armbanduhr des Opfers. Tatsächlich werden geringe Proben fremder DNA sichergestellt. Doch die Spur ist zu schwach, um sie zuordnen zu können.
Heute erinnert vor Ort nichts mehr an das grausame Ende von Friedhelm J. In dem Gebäude der ehemaligen Corso-Bar befindet sich eine Spielhalle. Das Toilettenhäusschen wurde im Jahr 2010 abgerissen. Am ehemaligen Standort stehen heute Fahrradparkplätze und ein Aufzug, der zum Bahnhalt am Oswaldsgarten führt. Täglich passieren Hunderte von Zugfahrgästen diese Stelle, ohne zu wissen, welche dramatischen und brutalen Szenen sich vor fast 50 Jahren dort nachts abgespielt haben. Der Täter ist der letzte, der diesen Mord noch aufklären könnte.