Mord verjährt nicht Spektakulärer Mord in Gießen: Gefängnis als Segen - Filmreifer Fall 1973
Karen WernervonKaren Werner
Filmreif wirkt ein spektakulärer Mord im Jahr 1973 in Wieseck. Für den Verteidiger blieb der Fall in einer Hinsicht einmalig. Wir blicken darauf zurück.
Gießen - Sie ist per Anhalter nach Italien gefahren, um eine Pistole zu besorgen, und hat Schießen geübt. Sie hat ein Zimmer gemietet, von dem aus sie die Wohnung einer jungen Familie beobachten kann. Mit sieben Schüssen hat Bärbel K. die 19-jährige Mutter eines Babys in deren Wohnzimmer niedergestreckt. Tags darauf lässt sich die Studentin ohne sichtbare Reue festnehmen. Mit der Schlagzeile "24-Jährige erschoß Frau ihres Ex-Freundes" berichtet die GAZ über das spektakuläre Tötungsdelikt am 7. Dezember 1973 in der Wiesecker Möserstraße. Dass der 28-Jährige genau genommen weder Freund noch Ex war, wird die Öffentlichkeit erst zweieinhalb Jahre später erfahren.
Zum Zeitpunkt der Tat hat Bärbel K. offiziell keinen festen Wohnsitz, ihre Mutter hat sie vermisst gemeldet. Als sie die 19-Jährige an jenem Freitagnachmittag aufsucht, ist eine Nachbarin samt mehrerer Kinder in der Wohnung. Vor ihnen beginnt in der Küche ein Gespräch, das zum Streit ausartet. Auf Wunsch der Studentin gehen die jungen Frauen ins Wohnzimmer. Die Nachbarin hört nach einiger Zeit dumpfe Schläge, sieht aber erst nach einer Dreiviertelstunde nach. Sie findet die 19-Jährige schwer verletzt. Die junge Mutter stirbt im Rettungswagen. Bärbel K. flüchtet durchs Fenster. Eine Stunde sitzt sie in ihrem Zimmer und wartet auf die Polizei. Als niemand kommt, fährt sie mit dem Zug nach Frankfurt und mietet sich dort in einem Hotel ein. Gießen: Nach dem Mord wartet sie im Wohnzimmer auf die Polizei
Ein Gast, der im Radio von der Fahndung gehört hat, erkennt sie. Bei ihrer Festnahme gibt Bärbel K. die Tat zu. Fast zweieinhalb Jahre sitzt sie in Untersuchungshaft, während Ermittler und Gutachter den Prozess vorbereiten.
Für die 24-Jährige wird der Aufenthalt in der Frauen-Justizvollzugsanstalt in Frankfurt-Preungesheim zu einem Segen. "Im Gefängnis habe ich zum ersten Mal Frauen erlebt, die mich verstehen", sagt sie vor Gericht. Sie lernt, Kontakte zu knüpfen, Kränkungen auszuhalten und Konflikte zu bewältigen.
Warum sie erst in Haft "nachreifen" kann, wird nicht völlig klar vor der Schwurgerichtskammer des Gießener Landgerichts im April 1976. Die Angeklagte möchte nicht viel sagen über ihre Kindheit. Die Rede ist von Trennung der Eltern, Selbstmordversuchen, nutzloser psychiatrischer Behandlung, Widerwillen gegen das Gymnasium, in dem sie sich als "Außenseiter" fühlt. Das Mädchen findet sich hässlich und versucht aus "Ekel", ihre Pickel mit Messer und Schere zu entfernen.
Mit 16 reißt sie das erste Mal von zu Hause aus und lernt in Frankfurt einen Italiener kennen, der eine andere schwängert und heiratet. Schon da will sich die Gießenerin bei einem Einbruch eine Pistole besorgen, "um ihrem Leben ein Ende bereiten zu können". Gießen: "Hörigkeit" zu späterem Opfer
1971 lernt Bärbel K. in einem Imbisslokal den Gießener kennen, zu dem sie eine Art "Hörigkeit" entwickelt. Er sitzt eine Weile im Gefängnis; warum, wird nicht erörtert. Im Juli 1973 heiratet er die Mutter seines knapp einjährigen Kindes. Auch danach geht er auf Bärbel K.s Angebote zum Stelldichein ein. Einmal gibt sie ihm 200 D-Mark. Danach fordert er Geld für weitere Treffen, so erklärt sie vor Gericht; er streitet das ab.
Warum hat sie die Frau getötet? Aus Hass und Neid, sagt die Angeklagte. Die 19-Jährige habe sie beleidigt. "Mein Leben war mir vollkommen gleichgültig. Heute ist mir mein Leben nicht mehr egal." Ihr sei jedenfalls klar gewesen, dass sie nicht an die Stelle der Ehefrau rücken werde.
Denn um eine Liebesbeziehung im konventionellen Sinne handelt es sich nicht. "Er hat nie das Geringste für mich empfunden", weiß Bärbel K. Der Mann habe sie "behandelt wie Abfall", aber: "Ich kam nicht los von ihm." Der Witwer beschreibt die Beziehung in rüden Worten. "Mir war die Bärbel egal." "Was heißt befreundet, ich habe mit ihr geschlafen." Sie habe einen entsprechenden Ruf gehabt. Gießen: Der "Klapsmühle" würde sie der Todesstrafe vorziehen
Als die mittlerweile 26-Jährige den Mann im Gerichtssaal wiedersieht, versucht sie sich auf ihn zu stürzen, beschimpft ihn, spuckt ihm vor die Füße. Auch sonst tritt Bärbel K. alles andere als kleinlaut auf. Die Gelegenheit zum letzten Wort vor dem Urteil nutzt sie zur Aussage: "Es ist billig, heute Reue zu zeigen." Der "Klapsmühle" würde sie der Todesstrafe vorziehen.
Die Einweisung in eine Anstalt würde "psychischen Tod" bedeuten, betont ihr junger Verteidiger Dr. Rainer Hamm aus Frankfurt. Im Gegensatz zum Staatsanwalt halte er die Angeklagte nicht für gemeingefährlich. Bärbel K. sei keine Triebtäterin, die aus Lust am Morden oder aus Habgier geschossen habe. Ursache der Tat sei die sexuelle Abhängigkeit. Den Sinn der Strafe, nämlich die Rückkehr in die Gesellschaft, könne man am besten durch weitere Entwicklung in der Haft erreichen.
Mit dieser Argumentation setzt sich der 33-Jährige weitgehend durch im - so der GAZ-Berichterstatter damals - "erbitterten Kampf um ›lebenslang‹ in der Irrenanstalt oder mehrere Jahre in einem Gefängnis".
Das Urteil: Wegen Mordes aus niederen Beweggründen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit soll Bärbel K. neun Jahre in Haft. Frühestens nach zwei Drittel der Strafe wird überprüft, ob die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt noch nötig ist.
Als strafmildernd gilt, dass sie sich um das Kind der Getöteten kümmere und so "eine Art Wiedergutmachung leistet". Auf welche Weise sie dies tut, bleibt offen. Gießen: Mordfall bleibt Verteidiger nach Jahrzehnten in Erinnerung
Hamm, heute 76 und in seiner eigenen Kanzlei nach wie vor beruflich aktiv, hat seitdem viel erlebt. Als Strafverteidiger war er unter anderem am Verfahren um den Absturz des Lufthansa-Fluges 540 und am Mannesmann-Prozess beteiligt, er lehrt Strafrecht als Honorarprofessor an der Uni Frankfurt, verfasste ein Standardwerk über die strafrechtliche Revision.
Dennoch habe er den Gießener Fall "noch in lebhafter Erinnerung", erzählt er auf GAZ-Anfrage - "war er doch der einzige Fall, in dem ich als Verteidiger im Interesse der Mandantin einen Freispruch verhindern musste". Ihre Einstufung als schuldunfähig hätte die Unterbringung in der Psychiatrie bedeutet. "Nach der damaligen Praxis wären ihre Chancen, jemals wieder zur Bewährung entlassen zu werden, denkbar gering gewesen." Im Gegensatz zu den damaligen Behandlungsmethoden in solchen Krankenhäusern habe die vorbildliche Betreuung in der "modern und menschlich geführten" Frauenhaftanstalt Preungesheim Erfolg versprochen. Das Gericht habe eine "weise Entscheidung" getroffen.
Auf die Frage, ob er wisse, was aus Bärbel K. geworden ist, beruft sich Hamm auf seine Schweigepflicht.