«Jetzt wird der Fall Rebecca wieder aktuell» Vor 25 Jahren wurde die damals achtjährige Rebecca aus Gettnau LU im Kanton Bern ermordet aufgefunden. Polizeiermittler Josef Emmenegger ist seit jenem Tag hinter dem Täter her. «Jetzt kann ich den Fall vielleicht doch noch z'Bode bringe», sagt er im Gespräch mit 20minuten.ch. Seine Hoffnung hat einen Namen: Urs Hans Von Aesch.
Kasimir-Pfeiffer-Strasse, Luzern, 5. Stock. Als Josef Emmenegger am Morgen des 1. August 2007 in sein Büro kommt, und den Stapel mit den neuesten Polizeimeldungen durchgeht, sticht ihm ein Papier ganz besonders ins Auge. Es ist eine Meldung seiner Kollegen aus St. Gallen. «Vermisst wird die fünfjährige Ylenia», liest er da. Emmenegger legt die Meldung beiseite, sein Blick verliert sich im Raum, ein Gedanke schiesst ihm durch den Kopf: «Jetzt kann ich die Sache vielleicht doch noch z’Bode bringe.» Seit 25 Jahren wartet er darauf. Jetzt gibt es endlich wieder eine heisse Spur.
«Ich habe mich recht verbissen»
Rückblende: Im Frühling 1982 verschwindet im luzernischen Gettnau die achtjährige Rebecca Bieri spurlos. Josef Emmenegger ist gerade seit vier Jahren bei der Kantonspolizei Luzern im Dienst. Die Suche nach dem kleinen Mädchen wird sein grösster Fall. Polizist Emmenegger wird zur rechten Hand seines damaligen Chefs. Er kennt die Gegend um Gettnau wie seine Hosentasche und lernt bald auch die Eltern der verschwundenen Rebecca kennen. Rund ein halbes Jahr später, am 15. August 1982, wird das vermisste Mädchen im Kanton Bern tot aufgefunden. Der Fall lässt Emmenegger nicht mehr los. Bis heute nicht. «Ich habe mich recht verbissen», sagt er. Vor ihm liegen drei Aktenordner. «Soko Rebecca», steht darauf geschrieben. «Ich habe sie nie ad acta gelegt». Jetzt hat er sie wieder griffbereit.
Die dunklen Achtzigerjahre
Der «Fall Rebecca» löste damals nicht nur bei der Kantonspolizei Luzern eine einmalige Fahndungsaktion aus. Eine interkantonale kriminalpolizeiliche Arbeitsgruppe wird ins Leben gerufen. Ihr Name: «Soko Rebecca». Einer der Männer der ersten Stunde: Josef Emmenegger. Der «Fall Rebecca» ist der Beginn, den Emmenegger als die «dunklen Achtzigerjahre» bezeichnet. Zwischen 1980 und 1989 wurden in acht Kantonen elf Kinder im Alter zwischen sechs und 14 Jahren entführt. Während sieben ermordet aufgefunden wurden, gelten vier bis heute als vermisst. Die Handschrift der Verbrechen wies auf einen psychisch abnormen Täter mit sadistischen Zügen hin. Als am 26. August 1989 in Hägendorf SO die neunjährige Fabienne Imhof ermordet wurde, meldete sich bei der Kantonspolizei Solothurn ein Mann. Er sagte, er habe nichts mit dem Mord an Fabienne zu tun. Eine Stunde später wird er in seiner Wohnung verhaftet. Sein Name: Werner Ferrari.
Emmenegger verhört Werner Ferrari
Ferrari gesteht in der Untersuchungshaft insgesamt vier Morde. Neben jenem an Fabienne Imhof gab er zu, 1983 den zehnjährigen Benjamin Egli aus Kloten, 1985 den siebenjährigen Daniel Suter aus Rümlang sowie 1987 den zehnjährigen Christian Widmer aus Windisch entführt und umgebracht zu haben.
1990 sitzt Werner Ferrari Josef Emmenegger gegenüber. Der vierfache Mörder war während sechs Wochen zum Verhör in Luzern und Emmenegger einer der beiden Ermittler, die Ferrari in Sachen Rebecca verhörten. «Ferrari hatte zwar für den Mord an Rebecca kein Alibi. Aber er bestritt auch immer, etwas mit dem Fall zu tun zu haben», sagt Emmenegger. Für den inzwischen zum Chef Abteilung Leib und Leben aufgestiegenen Polizisten war klar: «Es muss einen zweiten Täter geben. Ferrari hatte es ja vorzugsweise auf Knaben abgesehen. Doch: Nachdem Ferrari verhaftet war, hörte es auf.»
«Dann kam jeweils der Dämpfer»
Die Serie von vermissten und/oder ermordeten Kindern riss ab. Die «dunklen Achtzigerjahre» waren vorbei. Nach einer heissen Spur suchte Emmenegger danach vergebens, obwohl er in all den Jahren 1090 Autos überprüfte und 650 Personen befragte. «Wir hatten oft die Hoffnung: Jetzt sind wir auf der richtigen Spur. Doch dann kam jeweils der Dämpfer», sagt Emmenegger. Die Taten blieben ungeklärt.
«Dieser Zusammenhang ist bei allen im Hinterkopf»
Dann kam der 1. August 2007, und seither flattern immer mehr Details zum «Fall Ylenia» auf das Pult von Josef Emmenegger. «Als schliesslich die Kleider gefunden wurden, war für mich klar: Jetzt wird der Fall Rebecca wieder aktuell.» Aktueller denn je. Hat Urs Hans Von Aesch, der Entführer von Ylenia, auch mit dem Tod von Rebecca zu tun? «Dieser Zusammenhang ist momentan natürlich bei allen im Hinterkopf», gibt sich Josef Emmenegger polizeidiplomatisch korrekt. Seine Hoffnungen ruhen momentan vor allem darauf, neue Details über Von Aeschs Lebenslauf und Aufenthaltsort im Jahr 1982 zu erfahren. Dies herauszufinden liegt nun in den Händen seiner St. Galler Kollegen. Auf grosse Spekulationen will sich Emmenegger nicht einlassen. Die Kantonspolizei Luzern habe aber noch einige Spuren, die mit neuen Fakten zur Klärung des Mordes an Rebecca führen könnten. Kommunizieren wird sie die Hinweise nicht, bis der Fall geklärt ist.
Noch zehn Monate Zeit
Emmeneggers Hoffnung aber lebt. Und sie wird genährt mit der brisanten Auffälligkeit, die ihn im «Fall Ferrari» immer zweifeln liess. «1989 wurde Ferrari verhaftet und es hörte auf. Fast zur gleichen Zeit wanderte aber auch Urs Hans Von Aesch nach Spanien aus –» Wer Emmenegger in diesen Minuten zuhört, glaubt mehr als die pure Hoffnung zu spüren. Der «Fall Ylenia» und Urs Hans Von Aesch ist seine heisse Spur, die ihn vielleicht doch noch zur Lösung seines grössten Falles bringen.
Emmenegger sagt: «Wenn ich den Fall z’Bode bringe, wär das das schönste Geschenk zu meiner Pensionierung.» Er hat noch zehn Monate Zeit.
Vor 35 Jahren wurde Rebecca entführt und getötet, der Mörder der Achtjährigen aus Gettnau LU aber nie gefunden. Wahrscheinlich war es ein Mercedesfahrer aus dem Kanton Zürich.
Als Kriminalpolizist hat Josef Emmenegger (71) viel erlebt. Doch wenn er über den Fall der kleinen Rebecca Bieri redet, die im Jahr 1982 entführt und umgebracht wurde, verrät seine Stimme Emotionen. «Der Fall Rebecca geht mir an die Nieren.» Jahrelang war Emmenegger Leiter der Abteilung Leib und Leben bei der Luzerner Kriminalpolizei. Seit acht Jahren ist er pensioniert, 1982 wirkte er massgeblich in der Sonderkommission Rebecca mit.
Der Fall ist bis heute ungeklärt, der Mörder nie gefunden worden. Der passionierte Jäger Emmenegger jedoch hat die Hoffnung nie aufgegeben, dass der Mörder, falls er heute noch lebt, reinen Tisch macht und auspackt. Eindringlich legt er ihm nahe, über seine Tat Rechenschaft abzulegen und in seinem Innersten aufzuräumen: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch, der eine solche Tat auf dem Gewissen hat, seine Ruhe findet.»
Fast 35 Jahre nach der Tat steht Emmenegger vor dem Schulhaus in Gettnau. Hier machte sich die achtjährige Rebecca am Samstag, dem 20. März 1982, um halb zwölf Uhr auf den Heimweg. «Es hat gehudlet und geschneit», sagt Emmenegger.
Gettnau ist eine kleine, abgelegene Gemeinde im Luzerner Hinterland. Rebeccas Eltern sind Bauern, wie die meisten Einwohner hier. Rebeccas Schulweg ist rund zwei Kilometer lang.
Nach dem Unterricht geht das Mädchen an der Dorfkirche vorbei. Sie wechselt auf die andere Strassenseite, wo die Kühbergstrasse beginnt, die in die Hügel führt, hinauf zum Hof der Bieris.
Ein Anwohner hat das Kind noch auf halbem Weg gesehen, etwa 600 Meter von zu Hause muss der Entführer Rebecca gepackt haben. Auf dem Hof der Familie kommt sie nie an. Die Eltern sind an jenem Tag zu Besuch in der Rekrutenschule ihres älteren Sohnes in Luzern. Die Geschwister schlagen Alarm.
Wo ist Rebecca? Am Sonntag, dem Tag nach ihrem Verschwinden, finden Kinder ihren Schulthek in Rohr in einem Bachbett bei Aarau. Darin verpackt sind ihre Kleider. Daraus schliessen die Ermittler: Rebecca ist entführt worden; sie fiel wahrscheinlich einem Sexualverbrechen zum Opfer.
Erst ein halbes Jahr später wird die Vermutung zur schrecklichen Gewissheit: Rebecca ist tot. Ihr Skelett liegt in einem Waldstück in Niederbipp BE.
Was mit dem Mädchen genau geschehen ist, wie es entführt wurde und ums Leben kam, kann Josef Emmenegger nur vermuten. Ein Zeuge hatte an jenem Samstagmittag gesehen, wie ein weisser Mercedes mit Zürcher Kontrollschildern um die Mittagszeit die Kühbergstrasse hinauf- und wieder zurückfuhr. Kurz darauf sei der Wagen in die Hauptstrasse eingebogen.
Das Auto war dem Beobachter aufgefallen, weil damals in dieser Gegend nicht alle Tage ein Mercedes mit Zürcher Kontrollschildern vorbeifuhr. «Personen konnte der Zeuge jedoch nicht erkennen, auch ein Mädchen oder Kind hatte er nicht wahrgenommen», sagt Emmenegger.
Der Kriminalist hält die Aussage für glaubwürdig. Noch heute ist er überzeugt, dass der Mörder den Mercedes steuerte. 1090 weisse Fahrzeuge dieser Marke mit Zürcher Kennzeichen wurden in den Monaten danach untersucht.
«Wir versuchten alles, um den Täter zu überführen, befragten rund 700 Personen», erinnert sich Emmenegger. Er ist sicher: «Mit der heutigen DNA-Spurensuche hätte man ihn wohl gefasst.»
Es sei durchaus möglich, dass die Ermittler damals sogar das Auto des Täters gefunden und untersucht haben. Die damaligen Methoden der Spurensicherung hätten aber nicht mehr zu einem Beweis führen können. Eine gründliche Reinigung des Autos wäre zur Beseitigung von Spuren ausreichend gewesen.
Auf den Mercedes-Fahrer weisen auch weitere Umstände hin: Am Tag der Entführung lag ein wenig Schnee, und an einer Stelle, wo die Strasse zu Rebeccas Elternhaus von dichtem Wald gesäumt ist, gab es Spuren eines Autoreifens. «Dort fühlte sich der Täter einen Augenblick sicher und unbeobachtet», glaubt Emmenegger. Er könnte das Kind in sein Auto gezerrt haben und weggefahren sein. Vielleicht habe er es auch in den Kofferraum gesperrt.
Emmenegger vermutet, dass der Täter zunächst auf der Hauptstrasse Richtung Bernbiet fuhr und das Kind am späteren Fundort in Niederbipp getötet hat. Später sei er auf der Autobahn zurück Richtung Zürich gefahren. Bei Aarau habe er dann abseits der Strasse Rebeccas Schulsack mit ihren Kleidern weggeworfen.
«Aber das alles sind nur Hypothesen», betont der frühere Kriminalpolizist. «Mit Sicherheit wissen wir das nicht.»
Waren es zwei Serientäter?
Zwischen 1980 und 1989 wurden in acht Kantonen elf Kinder im Alter zwischen sechs und 14 Jahren entführt. Der Luzerner Ex-Ermittler Josef Emmenegger sieht im Fall Rebecca Bieri Parallelen zu vier späteren Entführungsfällen. Auch sie sind bis heute ungeklärt:
- Loredana Mancini in Spreitenbach AG: Die Achtjährige verschwand 1983 auf dem Weg ins Shoppingcenter in Spreitenbach. Ihre Leiche wurde in einem Waldstück bei Rümlang ZH gefunden.
- Sarah Oberson in Saxon VS: Die Sechsjährige wurde 1985 zuletzt mit dem Velo vor dem Schulhaus des Dorfes gesehen. Seither ist sie verschwunden.
- Sylvie Bovet aus Neuenburg: Das zwölfjährige behinderte Mädchen verschwand 1985 während eines Waldspaziergangs mit anderen Kindern und ist seitdem vermisst.
- Edith Trittenbass in Gass-Wetzikon TG: Die Achtjährige verschwand 1986 auf dem Weg zur Schule und wird seit damals vermisst.
- Peter Roth in Mogelsberg SG: 1984 verschwand der Achtjährige auf dem Heimweg von der Schule. Auch von ihm fehlt bis heute jede Spur.
Josef Emmenegger ist überzeugt, dass damals mindestens zwei Serientäter unterwegs waren. Werner Ferrari, verurteilt wegen mehrfachen Kindsmordes, hatte es mit einer Ausnahme auf Buben abgesehen, sagt der Ex-Ermittler. Ein zweiter Täter habe es vor allem auf Mädchen abgesehen gehabt. Auffallend sei, dass fast alle Opfer eine gewisse Ähnlichkeit hatten, z. B. eine Rundhaarfrisur trugen. Bemerkenswert sei auch, dass der Täter meist in der Nähe von Schulen zuschlug.
Viele Parallelen zum Fall Ylenia
Der Fall Rebecca Bieri hat Ähnlichkeit mit dem Fall Ylenia. Die Fünfjährige wurde am 31. Juli 2007 in Appenzell nach einem Besuch im Hallenbad entführt. Am 15. September fand ein Mann ihre Leiche in einem Wald bei Oberbüren SG – der Rucksack mit ihren Kleidern lag knapp drei Kilometer entfernt im Wald. Als Kidnapper stellte sich Urs Hans von Aesch heraus. Kurz nach der Tat brachte er sich um. Zur Tötung Ylenias konnte er nicht mehr befragt werden.
Trotz vieler Parallelen hält es der Ermittler Josef Emmenegger für unwahrscheinlich, dass von Aesch auch Rebecca auf dem Gewissen hat. Die Sonderkommission habe sein Vorleben in den Achtzigerjahren genau untersucht und keine konkreten Hinweise gefunden, dass er der zweite Serientäter sein könnte, «aber komplett ausgeschlossen ist es nicht».