Immer wieder gibt es Meldungen, dass weit zurückliegende Mordfälle dank neuer Methoden doch noch aufgeklärt werden. Für ein grausames Verbrechen, das sich vor 29 Jahren in Leipzig ereignet hat, gibt es diese Hoffnung kaum noch. Es sei denn, der Täter stellt sich.
Von Gabi Thieme erschienen am 23.03.2015
Leipzig. Der Schmerz, den Günter Müller immer um den 22. März herum empfindet, ist seit nunmehr 29 Jahren stets derselbe - auch sein Kummer. Der Leipziger hat inzwischen nur gelernt, mit diesem Datum irgendwie umzugehen. Vor Jahren hatte er noch Hoffnung, wenn er an diesem Tag auf dem kleinen Friedhof in Leipzig-Gohlis an das Grab seiner Tochter Sylke Blumen brachte. Inzwischen liegen hier nicht nur sein Kind, sondern auch seine Frau und vor allem seine Hoffnung begraben. Günter Müller glaubt nicht mehr daran, dass die Ermordung seiner damals 19-jährigen Tochter jemals aufgeklärt wird.
Nachrichten wie die vom letzten Herbst aus Erfurt, als vier Beschuldigte gefasst wurden, die 1994 einen 20-jährigen Kumpanen getötet haben sollen, machen dem Leipziger keinen Mut. Auch die neue Spur, die es nach 21 Jahren jetzt zu einem ungeklärten Disko-Mord an einer 20-Jährigen in Görlitz gibt, kann ihn nicht mehr zuversichtlich stimmen. Der Mörder seiner Tochter - so er noch lebt - wird sich wohl nicht verantworten müssen, sagt der agile 80-Jährige.
Es war der letzte Samstag der Leipziger Frühjahrsmesse 1986. Günter Müller war noch in seinem traditionsreichen Geschäft "Waffen-Moritz" in Leipzig, als sich seine Tochter gegen 13 Uhr in der elterlichen Wohnung von der Mutter verabschiedete. Ihr vertraute sie alles an, auch dass sie zu ihrem Freund in den Stadtteil Mockau fahren wollte, obwohl die Beziehung bereits bröckelte. Als sie den Freund volltrunken im Bett vorfand, machte sie auf dem Absatz kehrt, um zur Oma zu fahren. Ihr schüttete sie ihr Herz aus, machte ihrem ganzen Kummer Luft. Als sich die Enkelin gegen 17.15 Uhr schließlich verabschiedete, sagte sie: "Ich versuch's noch mal mit ihm." Obwohl es der erste schöne Frühlingstag dieses Jahres war, versprach sie der Oma, nicht die Abkürzung zu Fuß durch den Wald zu nehmen, sondern mit dem Bus nach Hause zu fahren. Doch dort kam die bildhübsche sportliche Frau nie an.
Günter Müller erzählt, dass er sich zunächst keine Sorgen gemacht habe. "Meine Tochter war in jeder Beziehung zuverlässig. Schließlich war sie schon 19, stand kurz vor dem Berufsabschluss als Krankenschwester." Nur einmal habe sie ein Ereignis aus der Bahn geworfen: Als sie miterleben musste, wie vor ihren Augen in der Klinik ein Patient starb.
Als das dunkelblonde Mädchen am Sonntagmorgen, es war der 23. März 1986, immer noch nicht wieder zu Hause war, wurde der Vater unruhig. Sie war noch nie weggeblieben, ohne es vorher anzukündigen. Er war überzeugt: Es musste etwas passiert sein. Um 10 Uhr ging er schließlich zur Polizei. "Dort hörte ich die üblichen Floskeln, meine Tochter werde schon wieder auftauchen." Es sei doch normal, dass ein so hübscher Teenager mit 19 mal über Nacht wegbleibt, wiegelten die Polizisten ab. Weil Müller auch an den folgenden zwei Tagen das Gefühl hatte, seine Anzeige werde nicht ernst genug genommen, ging er selbst zur Staatsanwaltschaft. "Ich regte an, eine Vermisstenmeldung in der ,Leipziger Volkszeitung' zu veröffentlichen." Das sei jedoch abgelehnt worden mit dem Hinweis, man wolle die Bevölkerung mit solchen Meldungen nicht beunruhigen. Als es nach drei Wochen immer noch keinen Hinweis zum Verbleib der Schwesternschülerin gab, erschien schließlich am 5. April eine Notiz im Lokalteil der Zeitung - mit einem Foto des Mädchens und der Bitte um Hinweise.
Erst fünfeinhalb Wochen nach dem Verschwinden erhielten die Eltern Gewissheit über das Schicksal ihres Kindes. "Man teilte uns mit: ,Wir haben Ihre Tochter gefunden und identifiziert.'" Ein Mann hätte auf seinem ungenutzten Garten- und Werkstattgrundstück in einer alten Trockentoilette kopfüber die Leiche einer Frau entdeckt. Es war Sylke.
Der Fundort lag keine 500 Meter von der Wohnung der Müllers entfernt. Rechtsmediziner stellten fest, dass das Mädchen erdrosselt worden war. Auf den Brüsten fand man Bissspuren, im Genitalbereich Sperma. Sylke Müller war ganz offensichtlich Opfer eines Sexualmordes geworden. Als Todeszeitpunkt wurde der 22. März, 21.30 Uhr, bestimmt.
Der Verdacht richtete sich schnell gegen den Mann, der den Fund gemeldet hatte. Er wurde verhaftet, bestritt aber die Tat. Man brachte ihn in eine Zelle, die er mit einem sogenannten Zelleninformanten teilen musste. Die Ermittler hofften, dass er sich ihm gegenüber öffnen würde. Doch er erzählte nur, was die Kripo ohnehin wusste: Dass er zur fraglichen Zeit im Grenzgebiet Berlin-Treptow bei seinem Bruder war, der dort eine Laube besaß. Er wurde ohne Passierschein aufgegriffen und überprüft. "Grenzer der Hauptstadt gaben unserem Verdächtigen praktisch ein Alibi", bestätigte der damals oberste Fahndungschef der DDR-Kriminalpolizei, Gerhard Lauter, der heute wieder in Leipzig lebt.
Weil in der Messestadt fast zeitgleich noch ein Kind ermordet worden war, erhielt die Polizei Verstärkung: Drei Kriminalisten der Morduntersuchungskommision Karl-Marx-Stadt mussten Ende April für mehrere Wochen nach Leipzig, um die Ermittlungen zu forcieren.
Manfred Teichmann sind noch heute auf Anhieb fast alle Details dieses Falls in Erinnerung. "Akribisch haben wir den Weg und die Aufenthaltsorte des Mädchens rekonstruiert, alle Bekannten abgeklopft, haben uns wochenlang mit den Bissspuren an der Brust beschäftigt. Hätte es damals schon die Möglichkeit von DNA-Tests gegeben, hätten wir den Täter gefunden", sagt der heute 63-jährige Chemnitzer. "Stattdessen haben wir alle halbwegs Verdächtigen in Plastelina beißen lassen, um einen Abdruck ihres Gebisses zu bekommen. Aber zweifelsfrei passte keiner."
Auch dem Hauptverdächtigen konnte nichts bewiesen werden. Er wurde nach einigen Wochen aus der U-Haft entlassen. Die Karl-Marx-Städter Kriminalisten mussten im Sommer zurück in ihre Dienststelle - wegen eines Tötungsverbrechens in Freiberg. Spricht man den damaligen Chef der Mordkommission Karl-Marx-Stadt, Dieter Wolfram, auf den Fall an, dann kommt bei ihm in Sekundenschnelle die Erinnerung an das Mädel, dessen Mörder er erfolglos jagte. Die Leipzigerin ist dem Beamten im Ruhestand gut im Gedächtnis, obwohl er in seinem Berufsleben insgesamt 274 Tötungsdelikte zu bearbeiten hatte.
Günter Müller hat bis heute keine Ruhe gefunden. Im Keller seines Hauses bewahrt es alles auf, was er an Dokumenten und Schriftstücken zusammengetragen hat. Auch wenn es ihm eigentlich kaum noch nützt. Die Ermittlungsakten zum Fall Sylke wurden schon zu DDR-Zeiten vorläufig geschlossen. Nur Müllers Drängen ist es zuzuschreiben, dass vor reichlich zehn Jahren der einstige Chef-Ermittler Lauter noch einmal zu recherchieren begann.
Er hatte sich inzwischen als Rechtsanwalt niedergelassen. "Der Fall hatte mich nie losgelassen", gesteht er. "Sylkes Vater drängte und bevollmächtigte mich." Mit Erlaubnis der Staatsanwaltschaft sichtete Lauter Dutzende Kartons mit Aktenordnern, las die Vernehmungsprotokolle seiner früheren Kollegen. "Sie hatten gute Arbeit geleistet", meint der heute 64-Jährige. Und er erzählt auch, dass bei ihm ein Verdacht reifte, für den er aber keine Beweise erbringen konnte. Vor allem, weil das Wichtigste fehlte: die Asservate mit den Spuren des Täters, die die Polizei damals am Fundort sichergestellt hatte. Darunter der Slip mit Spermasekreten sowie Unterhemd und Anorak des Opfers.
Da Mord nicht verjährt, werden solche Asservate bei der Polizei sorgfältig beschriftet aufbewahrt - bis ein Fall geklärt ist. Zur Not über Jahrzehnte hinweg. Im Fall von Sylke Müller sind sie verschwunden. Vermutlich in den Wendewirren, glaubt Günter Müller. Seinen Verdacht, wer daran beteiligt gewesen sein könnte, bestätigt niemand. Auch nicht der heutige Polizeipräsident Bernd Merbitz, der zum Zeitpunkt des Verbrechens zwar noch in der Hochschulausbildung war, kurze Zeit später aber die Mordkommission in Leipzig übernahm. Für ihn ist "unvorstellbar", dass die Asservate weg sind. Eine Erklärung hat er aber nicht. Möglicherweise sei die Panne bei einem Umzug der Behörde oder durch ein Hochwasser passiert, mutmaßt der Polizeichef.
In keinem anderen der ein Dutzend noch ungelösten Mordfälle aus den Jahren von 1985 bis zur Wende auf dem Territorium von Sachsen ist so etwas passiert. "Warum ausgerechnet im Fall meiner Tochter? Warum war die Polizei nicht in der Lage, das Beweismaterial ordentlich zu sichern? Das fragt sich Günter Müller bis heute. Kein Wunder, dass er nicht gut auf die Arbeit der Polizei zu sprechen ist. Seine Frau hatte sich in ihrer Hoffnungslosigkeit 1995 das Leben genommen.