Panorama - die Reporter Der Fall Cem Dienstag, 05. Februar 2019, 21:15 bis 21:45 Uhr Donnerstag, 07. Februar 2019, 02:15 bis 02:45 Uhr
Es ist ein warmer Julimorgen als ein Passant den leblosen Körper von Cem K. findet. Seine Leiche sitzt vor dem Haupteingang eines Schulgebäudes im Hamburger Stadtteil Dulsberg, eine Hundeleine ist um den Hals gewickelt. Der Passant traut sich nicht näher an den reglosen Köper heran, macht aber ein Handyvideo. "Der kann doch nicht schlafen", sagt er aus dem Off. "Ich würde sagen, das hat er nicht selbst gemacht." Er ruft die Polizei.
Die Beamten hingegen sind sich schnell sicher: Zwar sei die Auffinde-Situation ungewöhnlich, aber der junge Mann habe sich erhängt. Eine Überprüfung ergibt, dass es sich um den 26-jährigen Cem K. handelt. Er wohnt schräg gegenüber. Um 11.37 Uhr notiert ein Arzt: Tod durch Erhängen. Die Beamten bringen noch am gleichen Tag die persönlichen Sachen bei Vater Murat K. vorbei. Und sie sagen ihm, dass sein Sohn sich das Leben genommen hat.
Anmerkung zur Berichterstattung Grundsätzlich berichten wir nicht über Suizide. Wir orientieren uns dabei am Pressekodex. Ein weiterer Grund für unsere Zurückhaltung ist die erhöhte Nachahmerquote nach Berichten über Suizide. Eine Ausnahme kann bestehen, wenn der Vorfall von öffentlichem Interesse ist.
Sollten Sie selbst von Suizidgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Die Telefonseelsorge hat Ansprechpartner - rund um die Uhr und auch anonym.
Der Tod von Cem K. wurde in Deutschland bislang nie öffentlich. Es gibt nicht mal eine kleine Meldung in der Lokalzeitung. Denn über Suizide wird üblicherweise nicht berichtet. Ganz anders sieht es in der Türkei aus. Etliche Zeitungen schreiben über Cem K.s Tod, seine Beerdigung wird sogar im Fernsehen übertragen. In türkischen Medien werden Zweifel an der Suizid-These laut - und an deutschen Ermittlern. Seit den NSU-Morden ist das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat brüchig. Jahrelang waren Ermittler hier auf der falschen Spur, vermuteten Streitereien im Drogenmilieu hinter den Nazi-Morden. Das Misstrauen bei vielen türkeistämmigen Menschen in Deutschland sitzt seitdem tief. Und es wirkt fort bis zum Fall des toten Cem K. aus Hamburg Dulsberg.
In Deutschland wird zu selten obduziert Experten schätzen, dass in Deutschland etwa 1.000 Morde im Jahr unerkannt bleiben. Denn es werde viel zu selten obduziert. Im Fall Cem K. hingegen wurde obduziert. Es gibt sogar mehrere ausführliche Gutachten. Und alle kommen zu dem Schluss, dass es keine Fremdeinwirkung bei seinem Tod gab. Das Problem im Todesfall Cem K. ist, dass es viele Wahrscheinlichkeiten gibt, aber keine Sicherheiten. Vieles bleibt im Zweifel, auch weil nicht rechtzeitig und zunächst nicht gründlich ermittelt wurde.
Der Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts Frankfurt, Marcel Verhoff, hat sich die Obduktionsgutachten für den NDR angeschaut. Auch er findet keine Hinweise auf ein Fremdverschulden, keine Hinweise auf einen Kampf oder ähnliches. Aber er stellt eine andere Ungereimtheit fest: Zwischen der ersten äußeren Leichenschau, die kurz nach dem Tod durchgeführt wurde, und dem Obduktions-Gutachten, das nach dem Öffnen der Leiche erstellt wurde. Es geht um kleine punktförmige Blutungen rund um die Augen - sogenannte Petechien. Sie treten auf, wenn sich jemand im Sitzen erhängt. Solche Petechien wären also ein wichtiges Indiz für Suizid. Das Merkwürdige: In der ersten äußeren Leichenschau werden keine Petechien beschrieben. Erst in dem späteren Gutachten werden sie dann erwähnt.
"Jetzt haben wir das nächste Problem. Diese Petechien können auch nach dem Tod entstehen", so Verhoff, "insbesondere, wenn der Leichnam sich beispielsweise in Bauchlage befindet. In Kopftieflage." Und eben wenn der Leichnam umgelagert werde, auf dem Weg in die Rechtsmedizin zum Beispiel. Entweder war Cem also schon tot, als er in die Schlinge kam - oder aber, und das hält Verhoff für plausibler, die Polizei vor Ort hat vergessen, die Petechien zu dokumentieren. Am Ende aber fehlt ein wichtiger Hinweis und es bleiben Zweifel.
Am Abend vor seinem Tod wird Cem K. im Hamburger Stadtpark gesehen. Etwa vier Kilometer entfernt vom späteren Fundort seiner Leiche. Nach Bekanntwerden von Cems Tod melden drei Männer ihre Beobachtung bei der Polizei. Im polizeilichen Vermerk heißt es dazu: "Bei einem Spaziergang durch den Stadtpark hörten die Herren demnach Schreie im Bereich des Wassers. Beim Nachschauen trafen sie auf den ihnen bekannten Cem K., der Streit mit einer männlichen Person hatte." Es sei zu einer Handgreiflichkeit gekommen, infolge derer Cem sogar verletzt wurde. Einer der Zeugen habe sogar Blut an seinem Hemd gehabt. Worum es in dem Streit ging, was Cem nachts im Park gemacht hatte - das alles wurde nie geklärt.
Betrug und Drogenhandel? Und noch eine Sache im Fall Cem K. ist besonders merkwürdig: Am Tag vor seinem Tod wird in seinem Namen ein Großeinkauf in einem Möbelhaus bei Hamburg getätigt. Unbekannte kaufen Möbel im Wert von 14.000 Euro. Sie nutzen seinen Namen, seine Adresse und seine Telefonnummer. Später ändern sie die Adresse telefonisch, lassen sich Teile der Möbel liefern und entwenden sie ohne zu bezahlen. Es kommt zu einem Ermittlungsverfahren wegen Betruges gegen die Unbekannten.
Es gibt Hinweise, dass Cem von diesem Geschäft wusste, dass ihm dafür Geld versprochen wurde. Cem hat sich im letzten halben Jahr vor seinem Tod offenbar mit den falschen Leuten eingelassen. Eine Bekannte des Toten erzählt, Cem sei zu nett gewesen, eine andere beschreibt ihn als "gutgläubig". Offenbar ließ er sich auch auf andere Geschäfte ein. Er soll gemeinsam mit einem Bekannten Marihuana bezogen und weiter verkauft haben, ein Kilogramm pro Woche. Ein weiterer Zeuge sagt aus, er habe zuletzt sogar Kokain verkauft. Vieles im Leben des Cem K. scheint am Ende kompliziert geworden zu sein. Vielleicht geriet er unter Druck.
Im Zweifel für die Selbstmord-These Tatsächlich ermittelt die Staatsanwaltschaft Hamburg auch auf Drängen des Vaters schließlich sehr gründlich, sie befragt viele Zeugen. Offenbar hatte man dort auch Zweifel. Es ist vertrackt. Es gibt keinen hundertprozentigen Beweis für einen Suizid, keine Überwachungskamera, die zeigt, wie Cem sich das Leben nimmt, keine Zeugen, keinen Abschiedsbrief. Aber es gibt auch keinen Beweis für einen Mord. Und so werden die Ermittlungen irgendwann eingestellt. Der Zweifel aber bleibt. Und es bleibt auch ein verzweifelter Vater zurück, der nicht ruhen wird, bis er Sicherheit über den Tod seines Sohnes bekommt. Auch wenn es aussichtslos erscheint.