DREIFACH-MORD Dreifach-Mord in Essen ist seit 50 Jahren nicht aufgeklärt Martin Spletter
ESSEN. Vor 50 Jahren, im Mai 1968, brachten Unbekannte drei Mitglieder einer Konditorsfamilie in Essen-Rüttenscheid um. Was eine Hinterbliebene sagt.
Hannelore Grundmann ist heute 83 Jahre alt und erinnert sich an den Mai 1968, „als wäre es erst gestern gewesen. Es war so fürchterlich.“ In der Nacht zum 21. Mai verlor die Rüttenscheiderin auf einen Schlag ihren Bruder, ihren Vater und ihren Großvater.
Es war der Dreifach-Mord an der Konditorsfamilie Litt – eins der schwersten Kapitalverbrechen im Ruhrgebiet der Nachkriegsgeschichte. Die Tat ist bis heute nicht aufgeklärt. Je weiter die Zeit voranschreitet, desto unwahrscheinlicher wird, dass der oder die Täter noch benannt werden können, selbst wenn er oder sie längst gestorben sein sollte(n).
Tatwaffe: ein Wagenheber Unbekannte hebeln in der Nacht an der Häuserrückseite des stadtbekannten Cafés auf der Rüttenscheider Straße 73 die Eisenstäbe eines Toilettenfensters auf, vermutlich mit einem Wagenheber. Sie dringen in die Räume des Cafés ein, plündern die Kasse – in der nur Wechselgeld liegt – und betreten später die Privaträume der Familie Litt im zweiten Stock des Hauses. Sie erschießen Konditormeister Richard Litt (59), seinen Sohn (31), der den gleichen Namen trägt, und den Großvater Johannes Doornink (89), der zu Gast im Hause ist. Die Täter treffen ihre Opfer zunächst in Hals oder Bauch und richten sie anschließend regelrecht hin – mit aufgesetzten Schüssen zwischen die Schulterblätter. Die Toten, bekleidet im Schlafanzug, liegen auf dem Bauch, als sie wenig später vom Konditor-Lehrling gefunden werden, der pünktlich um sieben Uhr seinen Dienst antreten will.
„Die Täter raubten 500 Mark und eine Briefmarkensammlung“, erinnert sich Hannelore Grundmann, die Schwester von Mordopfer Richard Litt (31).
Gerüchte über den erfolgreichen Taubenzüchter Noch heute lebt sie in Rüttenscheid, keinen Kilometer Luftlinie entfernt vom damaligen Tatort. Das Haus wurde später abgerissen, seit Jahrzehnten beheimatet es wieder ein Café. „Warum man meinen Vater, meinen Bruder und meinen Großvater erschossen hat, weiß man bis heute nicht.“ Es gab damals Gerüchte, dass Litt Senior, ein bundesweit erfolgreicher Taubenzüchter, stets 50 000 DM in bar in seinem Haus horten würde. „Doch das war alles Unfug, es ist sehr viel an Märchen im Umlauf gewesen“, sagt Hannelore Grundmann. „Fest stand nur, dass mein Vater niemandem etwas antun konnte.“
1000 Spuren gab und gibt es bis heute Tatsächlich ist bis heute die entscheidende Frage unklar: Was war das Motiv der Täter?
„Mord verjährt nie“, heißt es lapidar aus dem Essener Polizeipräsidium. Rund 1000 Spuren gibt und gab es, alle Akten sind noch da, und weil die Kriminaltechnik längst dazu in der Lage ist, auch nach Jahrzehnten neue Erkenntnisse ans Licht zu befördern – Stichwort DNA-Analyse –, hieß es vor Jahren in einem internen Bericht der Polizei über den Fall Litt: „Es bleibt nur noch eine Frage der Zeit, wann die Akte Litt nochmal hervorgeholt und auf neue Möglichkeiten hin überprüft wird.“
INFO Ein falsches Geständnis Drei Monate nach der Tat meldete sich in Frankfurt Dieter E., gebürtig aus dem Ruhrgebiet. Er behauptete, den Dreifachmord begangen zu haben. Dieter E. war damals in Hessen wegen eines Einbruchs festgenommen worden. Dieter E. wurde vielfach vernommen – und bei den Staatsanwälten verfestigte sich der Eindruck, dass E. aus Geltungssucht den Ermittlern ein Märchen erzählt. Seine Hinweise zum Verbleib der Tatwaffe – bis heute nicht gefunden – waren wertlos. Dieter E. kam wegen anderer Delikte ins Gefängnis.
Die Polizei ging bis zuletzt davon aus, dass zwei Täter den Dreifachmord verübt haben.
Doch neue Ansätze sind derzeit nicht zu sehen: Im Düsseldorfer Landeskriminalamt (LKA) bauen sie derzeit eine Datenbank auf aus so genannten „Cold Cases“, ungeklärten Todesfällen, rund 900 Vorgänge aus dem ganzen Land werden elektronisch registriert. Der Fall Litt ist nicht dabei – denn erst mal sollen nur die Akten bis 1970 erfasst werden, heißt es.
„Warum und weshalb, es weiß bis heute niemand“, sagt Hannelore Grundmann. „Ich frag’ mich oft bis heute, wie ich dieses Schicksal gemeistert habe.“
Mordhaus wird abgerissen am 09.10.2015 um 08:10 Uhr
9. Oktober 1975.. Nach 74 Jahren wird das Haus Nummer 73, in dem sich seit 1933 das Café Litt befindet, auf der Rüttenscheider Straße abgebrochen. Acht Jahre vorher geschah hier ein dreifacher Mord, der eine Familie zerstörte und der bis heute nicht aufgeklärt ist. Im Mai 1968 wurden der Cafébesitzer Richard Litt (59), sein Sohn (31) und sein 89-jähriger Schwiegervater Johann Doornink, die über der Konditorei wohnten, von Unbekannten erschossen.
Die Täter drangen nachts in das Ladenlokal, in der Hoffnung auf fette Beute. Als sie nichts finden, schleichen sie in die zweite Etage. Dort werden Richard Litt und sein Sohn durch Geräusche wach - und stehen den Einbrechern gegenüber, die sofort schießen. Verletzt brechen die beiden Opfer zusammen und werden durch aufgesetzte Schüsse exekutiert. Von dem Krach wird Großvater Johann Doornink wach und ebenfalls kaltblütig erschossen.
Die Familie kommt über den Verlust nicht hinweg. Zwar führt Richard Litts Ehefrau das Café zunächst weiter, doch das Leid hat sie krank gemacht. Im Juli 1975 schließt sie das Café und das Haus wird verkauft. In den Neubau zieht mit dem Café Kötter wieder eine Konditorei ein.
KRIMINALITÄT. Dreifach-Bluttat an der Rüttenscheider Familie Litt ist seit 40 Jahren ungeklärt.
Der Trauerzug scheint schier endlos. Ein Meer aus Blumen und Kränzen säumt den Weg von der Totenhalle bis zum Grab auf dem Parkfriedhof. Es sind 1500 Menschen, die heute auf den Tag genau vor 40 Jahren Abschied von drei Essenern nehmen, die sieben Tage zuvor Opfer eines schrecklichen Verbrechens geworden sind. Die Tagesschau ist auch da und unzählige Journalisten, die über die Bluttat berichten wollen, die eine Familie zerstört, eine Stadt erschüttert, die bis heute nachwirkt, und das nicht nur, weil die Kripo nach wie vor nach dem Mörder fahndet. Erfolglos. Er ist unter uns - oder tot.
Zum 40. Jahrestag des Mordes an seinem Großvater Richard Litt (59), dessen gleichnamigen 31 Jahre alten Sohn und Schwiegervater Johann Doornink (89) hat Michael Grundmann eine Todesanzeige entworfen: "bis heute ungesühnt, doch unvergessen" ist am Morgen des 21. Mai 2008 auch in der NRZ zu lesen, während der Erste Kriminalhauptkommissar Wolfgang Dinsing in seinem Büro in der dritten Etage des Polizeipräsidiums einmal mehr über der Mordakte Litt brütet. Erneut in der abermals enttäuschten Hoffnung, womöglich ein winziges Detail übersehen zu haben, das bislang die Aufklärung des Dreifachmordes verhindert haben könnte. Dinsing muss es wurmen, dass die Täter bis heute nicht gefasst worden sind. Und es wurmt ihn tatsächlich, und es beschleichen ihn gleich wieder diese leisen Zweifel, dass der Mordfall Litt in den zweieinhalb Jahren bis zu seiner Pensionierung noch aufzuklären sein könnte. Viele, viele Einzelheiten eines der spektakulärsten Verbrechen der Essener Kriminalgeschichte sind bekannt.
"Es waren mindestens zwei Täter", sagt Dinsing, die nach der Nacht des 21. Mai plötzlich drei Menschen auf dem Gewissen haben sollten. Womöglich, weil mindestens einer der Vorstadtkriminellen die Nerven verloren hat und zur Pistole griff, die Einbrecher damals üblicherweise nicht mit sich führten. Eine Frage der Ehre, aber auch des zu erwartenden Strafmaßes, wenn man erwischt werden sollte.
Es ist stockdunkel und mitten in der Nacht, als sich die Gestalten im fahlen Schein der Gaslaternen dem Haus der Litts nähern, aus dem kein Laut dringt. Über ein Garagendach gelangen sie von der Annastraße aus in einen Innenhof, drücken mit einem Scherenwagenheber unbemerkt die Gitter eines Toilettenfensters auseinander, zwängen sich hindurch und gelangen ins Ladenlokal. In der Kasse, die sie aufbrechen, findet sich aber nur Kleingeld. Karge Beute. Nicht die Spur von jenen 50 000 Mark, die als Gerücht in Ganovenkreisen, bei den "Knackis" aus Frohnhausen und Holsterhausen, kursieren: Richard Litt als passionierter Taubenzüchter soll diese delikate Summe immer im Hause haben, weil in seinem Lokal angeblich mit wertvollen Zuchttieren gehandelt wird, die spontan sein Interesse finden könnten.
Aus dem Ruder gelaufen
Reines Schurkenlatein, meint Dinsing heute, das die Einbrecher damals aber für bare Münze nehmen. Deshalb wohl schleichen sie weiter nach oben. Die Türen zur ersten Etage sind verschlossen, die zur zweiten nicht. Dort werden Richard Litt und sein Sohn plötzlich wach, womöglich haben sie Geräusche gehört, sie schlagen die Bettdecke zurück, stehen und auf und stehen den Einbrechern gegenüber. "Dann ist irgendetwas aus dem Ruder gegangen" glaubt Dinsing.
Schüsse fallen. Von einer Kugel in den Hals getroffen, sackt Litt senior zusammen. Sein Sohn wird am Bauch erwischt. Sie liegen am Boden, doch sie leben noch, bis der Mörder sie mit aufgesetzten Schüssen aus seiner Beretta-Pistole tötet. Von dem Krach wird Großvater Johannes Doornink nebenan im Zimmer wach, und auch er wird kaltblütig erschossen. "Wenn es ganz Fremde gewesen wären", meint Dinsing, "hätten die die Männer nicht umlegen müssen." Die Verbrecher durchwühlen noch schnell die Schubladen, finden 500 Mark Tageseinnahmen aus dem Cafe? und verschwinden mit der Beute ins Dunkel der Nacht.
Die Leichen werden am Morgen von Angestellten entdeckt, und eine Mordkommission beginnt mit ihrer Arbeit, versucht die Tat zu rekonstruieren und den Tätern auf die Spur zu kommen. Doch nach 800 Hinweisen, mehrfachen Festnahmen und Verhören im Milieu, zwei xy-ungelöst-Sendungen am 7. März und 11. April 1969 sowie einer ausgesetzten Belohnung in Höhe von 10 000 Mark, die nie auszuzahlen war, wird die Akte Litt im November 1971 geschlossen. Womöglich vorschnell, doch als ein bekannter Großhandelskaufmann entführt wird, muss die Kripo Prioritäten setzen. Mit der Folge, dass ein viel versprechender Hinweis aus Verbrecherkreisen, zwei milieubekannte Männer hätten sich in einer Holsterhauser Kneipe über den Dreifach-Mord an der Familie Litt unterhalten, nicht bis zum Ende verfolgt wird. Und ein dritter zunächst Verdächtiger wird am 24. November '70 von der Staatsanwaltschaft außer Verfolgung gesetzt. Der damals 20-Jährige hatte nach einem Diebstahl in Frankfurt den Essener Dreifachmord zunächst gestanden, selbst eine Begehung der Wohnung an der Rüttenscheider Straße fand gemeinsam mit ihm statt, doch er widerruft und gesteht gleich dutzendweise und schließlich bescheinigt ihm ein Gutachten, dass er der Täter nicht sein könne und er sich alles zusammengereimt habe. Doch etwa 30 Jahre später gerät der Mann erneut ins Blickfeld und Dinsing, der sich mit dem Altfall erneut beschäftigt, in Wallung.
Schusswaffen im Auto
Auf einer Fahrt nach Tschechien wird der Mann, den er aus den Akten kennt, erneut von der Polizei aufgetan. In seinem Wagen finden sich zwei Schusswaffen. Doch die Hoffnung verzieht sich so schnell wie Pulverdampf, als die Untersuchung ergibt: Keine der beiden Pistolen ist identisch mit der Tatwaffe. Wieder nichts.
Am 40. Jahrestag des Verbrechens organisiert Michael Grundmann ein Treffen mit Verwandten und ehemaligen Cafe?-Angestellten. Sie stellen Kerzen auf an dem Platz auf dem Parkfriedhof, wo sich das Grab einmal befand. Es ist Gras drüber gewachsen und der Zahn der Zeit nicht spurlos daran vorüber gegangen. - Nur Mord, der verjährt nicht.