EIN LAGERARBEITER IST DES MORDES AN EINEM KIND ANGEKLAGT. ER SAGT, ER SEI UNSCHULDIG UND ES GIBT GEGEN IHN NUR INDIZIEN - NUN SOLL EIN "PROFILER" AUS WIEN HELFEN, DEN FALL ZU KLÄREN "Wenn ich der Täter wäre ... " Von Sabine Deckwerth
BERLIN, 11. Mai. Thomas Müller ist ein Mann für komplizierte Fälle: Wenn Mordkommissionen nicht weiter wissen, ist der Spezialist aus Wien gefragt. Müller ist 35 Jahre alt, Psychologe und hat sein Büro im österreichischen Innenministerium. Er ist ein "Profiler", einer, der Kriminalfälle analysiert und Hinweise auf mögliche Täter geben kann. Müller gilt in Europa als Koryphäe auf dem Gebiet der Tatortanalyse und beim Erstellen von Täterprofilen. Jetzt hat er seinen ersten Fall in Berlin.
Vergebliche Suche Müller ist Gutachter in einem Prozess, der am gestrigen Donnerstag vor der 32. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts begann. Es geht um den Tod der neunjährigen Marina Ermer; sie verschwand am 10. Juli 1993. Sieben Jahre nach Marinas Tod sitzt der 39 Jahre alte Christian J. wegen Mordes auf der Anklagebank. Der Staatsanwalt sagt, J. habe Marina "vermutlich erwürgt und erdrosselt". Der Angeklagte sagt: "Ich habe mit dem Mord nichts zu tun, es ist erschütternd für mich, dass mir so ein Vorwurf gemacht wird. Ich liebe meine Familie, ich könnte niemals Kinder anfassen."
Die neunjährige Marina verließ am 10. Juli 1993 um 15.25 Uhr ihre Wohnung an der Thomas-Müntzer-Straße in Berlin-Adlershof, um zu einem Spielplatz zu gehen. Dort kam sie nicht an. Polizisten durchsuchten die Köllnische Heide, befragten die Nachbarn, baten um Hinweise aus der Bevölkerung. Von Marina fanden sie keine Spur. Die Polizisten suchten jedoch nicht in allen umliegenden Häusern.
Erst ein Jahr später, im Juli 1994, wurde ihre Leiche gefunden, unbekleidet, in einen Bettbezug gewickelt und mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Sie lag in der Dörpfeldstraße 13, etwa 100 Meter von Marinas Elternhaus entfernt. Ein Mieter entdeckte das tote Kind beim Aufräumen des Dachbodens. Die Ermittler gehen davon aus, dass Marina Ermer sexuell missbraucht wurde.
Sie wissen nicht, ob vor oder nach ihrem Tod. Die Gentechniker fanden keine Spuren mehr von Blut oder Sperma an der Leiche. Sie fanden nur Sperma in Papiertaschentüchern, die in einer Ecke auf dem Dachboden lagen. Das Sperma wurde gentechnisch untersucht.
Und so viel ist sicher, es stammt von Christian J. J. lebte einst im dritten Stock in der Dörpfeldstraße 13, gleich unter dem Dach. Er war sechs Monate nach Marinas Verschwinden ausgezogen. Als Marinas Leiche entdeckt wurde, befragte die Polizei auch ihn als Zeugen und bat ihn um eine Speichelprobe für einen Genvergleich.
J. war einverstanden. Damals sagte er den Ermittlern, er habe auf dem Dachboden onaniert, weil er Streit mit seiner Freundin gehabt habe. Von der Leiche habe er nichts bemerkt. Die Kripo konnte ihm nichts nachweisen, sie kam in diesem Fall nicht weiter, die Akte Marina Ermer wurde ungeklärt weggelegt.
Fünf Jahre vergingen, bis ein Beamter sie im Jahre 1999 noch einmal zur Hand nahm. Routinemäßig, das ist bei ungeklärten Mordfällen üblich. Binnen kurzer Zeit fand der Mann heraus, wem der Bettbezug gehörte, in den die Leiche eingewickelt worden war. An ihm heftete der Zettel einer Adlershofer Wäscherei, mit einer Nummer. Ihm war bei früheren Ermittlungen offenbar keine Beachtung geschenkt worden. Jetzt wurden hunderte Kunden der Wäscherei überprüft. Dann stellt sich heraus, wer den Bezug reinigen ließ: die frühere Lebensgefährtin von Christian J.
Am 21. Oktober 1999 wurde J. verhaftet. Seither sitzt er in Untersuchungshaft. Sein Verteidiger Heinz H. Möller sagt, "nach meiner Theorie läuft der, der es getan hat, noch immer frei rum. J. passt einfach nicht in das Bild eines Sexualtäters". Es ist schon einiges aus dem Leben des Christian J. bekannt geworden; in solchen Prozessen legen Zeugen und Gutachter das Intimleben eines Angeklagten bloß.
Da werden Nachbarn nach Eindrücken und Besuchen gefragt und frühere Freundinnen nach seinem Charakter und seinen sexuellen Vorlieben. Petra S., eine ehemalige Freundin, schildert J. als sehr liebevoll, aber auch sehr eifersüchtig. Er habe sie einmal aus Eifersucht gewürgt. Sie sagt aber auch, dass sie ihm einen Sexualmord nicht zutraue, und dass er sexuell "völlig normal war". J. selbst hat viel erzählt an diesem ersten Verhandlungstag. Er ist Sohn eines Chemieingenieurs und einer Laborantin, er ist nicht vorbestraft. Er sagt, er habe eine glückliche Kindheit gehabt.
"Meine Eltern halten auch jetzt zu mir." Er arbeitete vor der Wende als Betriebstischler bei Berlin-Chemie und ist seit fünf Jahren Lagerarbeiter in einer Spedition, die ihm noch nicht gekündigt hat. Er sagt, er sei jemand, der gern in der Kneipe um die Ecke ein Bierchen trinke, aber nie Schnaps.
"Aber wenn ich einmal bisschen mehr angeheitert bin, habe ich noch nie eine Frau sexuell angemacht. Dann fange ich an, alle Menschen zu lieben." Seit fünf Jahren ist er mit einer Frau verheiratet, die drei Kinder hat.
Analyse des Tatorts "Die Taschentücher mit dem Sperma hätte ich doch nie in eine Ecke geschmissen, wenn ich der Täter wäre, sondern in den Müll", sagt J. vor Gericht. Offenbar hielten auch die Ermittler die Indizienkette gegen J. für zu dünn.
Warum sonst sollten sie den Psychologen Müller aus Wien mit einer Tatortanalyse beauftragt haben? Der "Profiler" wird in der kommenden Woche als Gutachter gehört. "Nach meiner Theorie läuft der, der es getan hat, noch immer frei rum. " Der Anwalt des Angeklagten J.